Liebe Freunde und Freundinnen von Hans Stürm.
Ich spreche hier von Hans Stürm als Filmautor und als Kameramann, doch gestorben ist mein nahster Freund. Eigentlich wollte ich ohne ein Manuskript zu Ihnen sprechen, doch als ich mir dazu einige Notizen machte, merkte ich, dass ich auf das Papier angewiesen bin, um nicht die Fassung zu verlieren.
Ich lernte Hans Stürm während 35 Jahren kennen:
Ich war seit kurzem bei Turnus Film angestellt, als Hans aus Paris dazukam, wo er an der IDHEC als Kameramann abgeschlossen und mit seiner Frau Nina den Film METRO realisiert hatte.
Bald zeigte sich, dass Hans und ich wenig Talent hatten, um für die Turnus Werbespots zu drehen. Wir leisteten zwar keinen Widerstand und die Darsteller waren guten Willens, doch wir hatten Hemmungen, wenn es darum ging, glücklich strahlende Konsumenten-Familien ins sonnige Bild zu setzen.
So wurden Hans vor allem Sachaufnahmen übertragen – Haushaltgeräte, schön angerichtete Speisen, Trinkgläser mit sternförmigen Hochglanzlichtern (die damals noch nicht in digitaler Nachbearbeitung hergestellt wurden).
Und zusammen drehten wir Aufnahmen für Industrie- und Auftrags-Dokumentarfilme.
Eine Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Hans:
Wir machten Aufnahmen in der riesigen, dunklen Halle einer Giesserei – Handkamera. Ich führte Hans an den Schultern, damit er nicht stolperte. Er versuchte sich – mit laufender Kamera – dem flüssigen Metall zu nähern, das sich sprühend aus einem der Schmelzöfen ergoss, während ich ihn mit aller Kraft aus der gefährlichen Zone zurückzuziehen suchte.
Wenn Hans in den Sucher der laufenden Kamera blickte, ging es nur noch um dieses Bild, dann vergass er sich und den Rest der Welt.
Gerne erinnere ich mich daran, wie wir in der Turnus beim Kaffee über Politik, Philosophie und Filmästhetik diskutierten – nicht nur Hans und ich, sondern auch Beat Kuert, Barbara Riesen, der Direktor Gody Suter und Michele Morach, führender Kopf im Filmclub DAF – Der Andere Film; durch seine Initiative entstand später auch der Verleih der Filmcooperative Zürich.
Wir galten in der Firma als Querulanten; und das war uns nicht unangenehm. Es war um 1968.
In unserer Freizeit konnten wir die Kameras, Tonstudios, Montagetische der Firma zur Realisierung unserer Autorenfilme nutzen. Doch als wir einen unserer Filme an einer betriebsinternen Vorführung zeigten, war der Eigentümer der Turnus Film schockiert, dass wir Filme machten, die sich explizit gegen das gesellschaftliche System richteten, zu dem er auch seine Firma zählte, die unsere Arbeit grosszügig unterstützte.
Und so begannen wir uns selbständig durchzuschlagen.
Eine erste Möglichkeit zum ökonomischen Überleben, war der Auftragsfilm "Berufe beim Zoll".
Marlies Graf und ich zeichneten als Autoren, während Hans für die Kameraarbeit aufgeführt war. Doch wenn sich Hans an einer Filmarbeit beteiligte, hat er immer auch deren Konzept mitgeprägt. Die Besonderheit dieses Films war, dass Vertreter der gezeigten Berufe innerhalb des Films unsere Darstellung ergänzten und kritisierten.
1972 realisierte Hans mit Nina den engagierten und bedrückenden Film ZUR WOHNUNGSFRAGE.
1975: EIN STREIK IST KEINE SONNTAGSCHULE, zusammen mit Nina und mit Mathias Knauer – ein Film, der geprägt ist vom grossen Interesse für diese Arbeiter – einem Interesse, wie es uns dann in all den Filmen begegnet, an deren Realisierung Hans mit seiner Kamera beteiligt war.
Eine besondere Qualität dieses Films: Dieses Interesse gilt nicht nur den Männern auf der Strasse vor der bestreikten Klavierfabrik, sondern auch deren Ehefrauen, in ihrer schwierigen Situation zu Hause.
1972 wurde der Verleih der Filmcooperative Zürich gegründet, 1975 entstand daraus auch eine Filmproduktion, das Filmkollektiv Zürich.
Hans war einer der Initianten der Gründung.
Als Inbegriff für die Arbeit des Filmkollektivs galten lange Zeit die sogenannten Interventionsfilme – Filme, die auf Anregung aus politischen Bewegungen entstanden, die einen Film brauchten, um ihn an Diskussionsveranstaltungen zu ihrem Themenkreis einzusetzen.
Hans war immer bereit, sich auf eine solche Arbeit einzulassen, zusammen mit Leuten aus einer dieser Gruppierungen. Die kollektive Arbeit wurde sehr hervorgehoben; Hans Stürm und Mathias Knauer hielten sich (und ihre Namen) im Hintergrund; doch die Projekte kamen nur zu einer Form und die Filmarbeit zu einem Ende, weil insgeheim jemand da war, der dafür die Verantwortung übernahm.
Es gab auch Projekte, die nicht zustande kamen, weil sich die engagierte politische Gruppierung einen Propagandafilm wünschte, während es uns im Filmkollektiv wichtig war, eine Thematik so darzustellen, dass die Filmvorführung Ausgangspunkt für ein offenes Gespräch sein konnte.
An allen Filmen war Hans entscheidend beteiligt:
1975: KAISERAUGST zur Besetzung des AKW-Geländes in Kaiseraugst, ein Film über eine Volksbewegung.
1977: LIEBER HERR DOKTOR, ein Film zur Abstimmung über die Fristenlösung des Schwangerschaftsabbruchs.
1978: AUFPASSEN MACHT SCHULE über die Repression im Schulbereich.
und 1987: ASYL – DIE SCHWEIZ DAS NADELÖHR – zur schweizerischen Asylpolitik und zur Praxis im Asylwesen.
Hans Stürm hat sich als Mitautor und als Kameramann – manchmal bis zum Ende seiner Kräfte – für diese wichtigen Anliegen eingesetzt – und die Filme fanden teils eine weite Verbreitung, die man sich heute kaum noch vorzustellen vermag.
Doch ich denke, dass die Interventions-Filme nur in dieser Qualität entstehen konnten, weil Hans zur selben Zeit in seinen Autoren-Filmen den ganz persönlichen Themen und Fragen an unsere Welt nachging, und dies ohne Vorstellungen von einer abschätzbaren gesellschaftlichen Nützlichkeit seiner Arbeit.
Blicke auf die blinden Flecke unserer Gesellschaft. Und damit auf das Verdrängte, auf die Ungerechtigkeiten, auf die schnell vergessenen Opfer der Geschichte.
Und Blicke auf das Gewöhnliche (an das, woran wir uns gewöhnt haben), auf das Alltägliche, das keine spektakulären Medienereignisse verspricht.
Hans hat seine Filme nie eingesetzt, um eine Botschaft zu vermitteln, sondern um durch die Filmarbeit etwas zu ergründen – ein Etwas, das er davor nicht hätte in Worte fassen können.
Auf ein Thema hat sich Hans nicht zum voraus festgelegt; er hat es bei den Dreharbeiten in der Begegnung mit diesen Menschen entdeckt und vertieft und bei der Montage durch das Formen des Materials herausgearbeitet, in einer Vielschichtigkeit, die es oft falsch klingen lässt, wenn versucht wird, das auf Begriffe zu bringen, was auf der Leinwand zu sehen ist.
1980: ES IST KALT IN BRANDENBURG mit Villi Hermann und Niklaus Meienberg.
Ich erinnere mich, wie Hans von den Filmaufnahmen aus Deutschland zurückkehrte. Er war lange Zeit erschüttert durch das, was ihnen – beim Erkunden einer Geschichte, die sie in der Vergangenheit gewähnt hatten – im aktuellen Deutschland begegnet war.
Beatrice Michel war schon in der Arbeitsgruppe dabei, die LIEBER HERR DOKTOR realisiert hatte. Mit ihr schuf Hans nun die drei gewichtigen Filme:
GOSSLIWIL (1985) , SERTSCHAWAN (1992) , KADDISCH (1997).
Jahre haben Hans und Bea mit den Bauern in GOSSLIWIL gelebt und gearbeitet und sie haben den Schneidetisch in den Bucheggberg transportiert, um den Film auch dort zu montieren.
Die Freundschaften, die in dieser Zeit entstanden, bestehen noch heute.
SERTSCHAWAN entstand im kurdischen Gebiet des Iran.
Die Freundschaften zu hier lebenden Kurden, die in ihrer Heimat verfolgt sind, trugen viel dazu bei, dass dieses Filmprojekt entstand.
KADDISCH
Faschismus und Antisemitismus, das Überleben nach dem Holocaust.
Die filmische Recherche ging von der Schweiz aus und umfasste halb Europa. Auch da entstanden Freundschaften, die über die Arbeit hinaus andauern.
Entscheidend für den starken Eindruck, den die Filme auf der Leinwand machen,
ist wohl auch die Tatsache, dass Hans gleichzeitig Film-Autor und Kameramann war.
Er wartete, beobachtete, lebte mit den Leuten, um einen Moment zu erhaschen, in der eine Handbewegung oder eine Haltung des Kopfes das Entscheidende aufscheinen lassen würde, das sich nicht vorhersehen lässt, das man nicht kennt, bevor es geschieht.
Diese Intensität der Bilder brachte Hans auch in die Filme von Kollegen und Kolleginnen ein, für die er die Kamera führte:
In frühen Jahren Seiler/Gnant/Kovach, Beat Kuert, Gertrud Pinkus, über lange Zeit hinweg ich, dann Marlies Graf, und vor allem Villi Hermann, mit dem Hans über viele Jahre hinweg eng zusammenarbeitete: Vom dokumentarischen Teil in SAN GOTTARDO (1974) bis zu LUIGI EINAUDI vor zwei Jahren.
Und im vergangenen Jahr haben Hans und Villi auch drei unserer acht Kurzfilmen für die Landwirtschafts-Ausstellung gedreht, die im Rahmen der Expo in Murten gezeigt werden.
Diese Filme (und die Dreharbeiten bei den drei Bauern) waren Hans sehr wichtig und er schien es zu geniessen, damit wieder bei GOSSLIWIL anknüpfen zu können. Nach Abschluss der Dreharbeiten wartete er Tage und Nächte lang bei einem der Bauern im Jura, um noch die Geburt eines Fohlens aufzunehmen. Was ihm sehr schön gelang.
Immer wichtiger wurde Hans in letzter Zeit das Licht. – Wie wenig Licht würde das Bild ertragen, damit das geheimnisvolle Etwas im dunkelsten Schatten oder im überstrahlenden Licht noch zu erahnen sein könnte?
Seine Ansprüche an seine Bilder wurden immer grösser: Er wollte die Magie eines Ortes mit der Kamera erfassen – wenn nötig, darauf warten, bis sich das richtige Licht einstellt. Und wenn diese Magie nicht da ist, dann wird an diesem Ort nicht gedreht.
Als in den letzten Jahren gesundheitliche Probleme die Kräfte von Hans schmälerten, haben wir ihm im Filmkollektiv zugesprochen, es etwas ruhiger zu nehmen. Das hat er im grossen Ganzen auch getan, nur im Kleinen – im alltäglichen Tun fiel es ihm schwer, einen gemächlicheren Rhythmus zu finden. Und an seinem ausgeprägtesten Charakterzug, seiner Hilfsbereitschaft, wollte und konnte er nichts ändern.
Als Hans und Bea von Hinteregg nach Zürich an die Konradstrasse zogen, begannen Sie mit der Arbeit an einem Filmprojekt, das das Leben rund um diesen Hinterhof zum Thema hat – die Nachbarn rund um den KONRADHOF (so der Arbeitstitel des Films), Leute aus verschiedensten Ländern und aus verschiedensten sozialen Schichten.
Ein Film, der mir von seiner Thematik her noch offener scheint, als die vorangegangenen Filme.
Ein risikoreiches Unternehmen, wie fast alle Filme, an denen Hans beteiligt war: Nichts als Alltäglichkeit und das Verstreichen der Zeit.
Mit Nachbarn geplante Aufnahmen mussten verschoben werden, weil sich Hans nicht gut fühlte.
Vom gedrehten Material bestehen erst einzelne roh montierte Sequenzen. Wie der Film nun zu einer Form finden wird, ist noch offen. Und wir und Beatrice Michel werden uns vorerst Zeit lassen müssen.
Das Pult von Hans im Filmkollektiv steht leer. Doch wenn irgendwelche wichtigen Fragen anstehen, wird es uns weiterhelfen, wenn wir uns fragen: "Was würde wohl Hans dazu sagen?"