MATHIAS KNAUER

Hans Stürm, 1942-2002

Am 30. Juni 2002 ist nach kurzer Krankheit der Filmemacher und Kameramann Hans Stürm in Zürich gestorben. Nach einem schweren Infarkt vor bald 3 Jahren, von dem wenige wussten, war sein Herz geschwächt.

Geboren 1942 in Bischofzell als Sohn eines Fabrikanten, erhielt er einen Teil seiner Bildung in der Klosterschule Disentis (wie Niklaus Meienberg). Später Kantonsschüler in Sankt Gallen, beteiligte er sich an einem Treatmentwettbewerb der Gesellschaft Christlicher Film: die besten zehn wurden zu einem Filmkurs eingeladen, und Hans Stürm konnte einen ersten Kurzfilm drehen: "Hauterive", eine meditative "Übungsproduktion" über das Zisterzienserkloster, die an Ostern 1963 am Schweizer Fernsehen lief. Die Rekrutenschule absolvierte er im Armeefilmdienst und studierte dann einige Semester Philosophie an der Universität Fribourg, wo er sich mit dem wackeren Antikommunisten I. M. Bochenski stritt, für den der sozialistische Humanismus mit dem christlichen unvereinbar waren – eine Auseinandersetzung, die Stürm wesentlich geprägt hat: humanistisches Handeln war für ihn immer Widerstand, radikales Engagement für die Freiheit und die Menschenrechte, der Anarchismus das wahre Christentum.

1964 wurde er ans IDHEC aufgenommen und erhielt dort 1967 das Kameradiplom. Er hatte 1965 Nina Schatz geheiratet, mit der er während Jahren auch seine Filme gemeinsam gestaltete. Noch in Paris wurden die Söhne Martin und Markus geboren. Wieder in Zürich arbeitete er bei der Gutenswiler Turnus-Film an Industrie- und Werbefilmen, im Kreise von gauchistischen Jungfilmern, aus denen ebenfalls etwas werden sollte: Beat Kuert und Barbara Riesen arbeiteten dort, Gody Suter, aber auch der spätere Initiant des Filmclubs DAF und der Filmcooperative, Michele Morach; und hier lernte Stürm auch Urs Graf kennen, mit dem er immer wieder zusammengearbeitet hat, zuletzt noch vor seinem Tod an den acht Kurzfilmen für die Expoagricole (Expo 2002).

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Es mag den aus bürgerlichem Milieu stammenden jungen Absolventen der Pariser Filmschule zunächst nur das Verbotene gelockt haben, als er seinen ganzen ersten Film ohne Dreherlaubnis im Untergrund der Pariser Metro drehte, um so zu ungesehenen Bildern zu kommen – Bildern vom arbeitenden Volk -: so wandte er sich unterm Eindruck der Studentenbewegung als einer der ersten Filmemacher direkt politischen Themen zu.

"Zur Wohnungsfrage", unter Anspielung auf Friedrich Engels' berühmten Aufsatz ein Filmessay über die Ware und das Herrschaftsinstrument Wohnung, war einer der ersten Schweizer Filme der Bewegung, die bekanntlich erst mit einiger Verzögerung im Filmschaffen und der Filmarbeit ihren Widerhall fand (die Filmcooperative Zürich wurde erst 1972 gegründet, im Jahr als Jürg Hasslers Krawall herauskam).

Ein grosses Projekt über die Mitbestimmung in den Betrieben, das den Arbeitstitel "Lieber Herr Direktor" trug und Hans Stürm einige Jahre beschäftigte, scheiterte schliesslich vor verschlossenen Betriebstoren, so wie später andere Projekte vor den Gremien.

Noch während dieser Arbeiten wurde in der Bieler Klavierfabrik Burger & Jacobi gestreikt, und die Bauarbeitergewerkschaft gab 30'000 Franken, um das Ereignis zu dokumentieren: Karl Aeschbach, der mit Viktor Sidler bis 1974 während neun Jahren die Zeitschrift "Cinéma" herausgegeben hatte, saß damals in der Gewerkschaftszentrale und patronisierte mit Ezio Canonica das Projekt. Mit diesen minimalen Mitteln drehten Hans und Nina Stürm mit Hansueli Schenkel die wenigen Rollen, die später fast bis zum letzten Meter in "Ein Streik ist keine Sonntagschule" verwendet worden sind.

Aus der Not geboren entstand hier eine Poetik – was aus dem Zuschleifen der wenigen Materialien hervorging, hatte eine eigene, strenge Qualität. Der Schreibende war damals als Lehrling dazugestossen und erinnert sich, dass wir, trotz des Erfolgs in Solothurn 1975, das Werklein für zu bescheiden hielten, einen Festivalpreis zu holen. Hans Stürm fuhr nicht einmal nach Oberhausen, wo der Film dann den Grossen Preis und noch vier weitere erhielt.

Kollektivarbeiten

Es folgten in kürzester Kadenz die Ereignisse: Stürm, vorher individueller Einzelproduzent, engagierte sich in der Filmcooperative; 1975 wurde das Filmkollektiv Zürich gegründet. Die folgenden Filme, mit denen wir alle in die laufenden Ereignisse einzugreifen versuchten, entstanden in diesem Umfeld als Kollektivarbeiten, zum Teil aus Spenden finanziert: 1975 "Kaiseraugst" (über die Besetzung des Kernkraftwerk-Baugeländes), 1977 "Lieber Herr Doktor" (über die Frage des Schwangerschaftsabbruchs), 1978 "Aufpassen Macht Schule" (über die Repression demokratischer Tendenzen an den Schulen unter Gilgen), und "Cinéma mort ou vif?", ein Projekt von Urs Graf, in dem wir die Bedingungen unserer Arbeit und unsere Methoden gemeinsam reflektierten.

Das Zusammentreffen der – beruflich wie politisch – engagiertesten unter den damaligen Filmemachern und Technikern war ein historischer Glücksfall: im Unterschied zum "militanten" Kino umliegender Länder entstanden hier spendenfinanzierte Kampagnenfilme auf höchstem handwerklichem Niveau, mit sorgfältiger Lichtführung und perfekten Schienenfahrten, was diese Filme auch heute noch sehenswert macht.

Poetik

Bemerkenswert indes – die historische Distanz lässt das heute überraschend deutlich hervortreten –, dass alle diese kollektiv gestalteten Filme eine Handschrift hatten. Sie war wesentlich von Hans Stürm mitgeprägt, und sie findet sich wieder, gereift, in seinen späteren Arbeiten mit Beatrice Michel, wie in "Sertschawan" und in "Kaddisch".

Die Bildkraft, die Plastizität und Raumtiefe seiner Bilder, der radikale Anspruch auf Materialität und Wahrhaftigkeit des Abbilds wären hier zu nennen – aber vor allem: es gründet die Qualität von Stürms Schaffen wesentlich in der gedanklichen Durchdringung aller aufgegriffenen Stoffe.

Denn mancher Stoff wird einem Dokumentarfilmer ja zugetrieben, ohne dass er ihn gesucht hätte: waren es früher politische Kampagnen, so später gelegentlich Aufträge, die Stürm wie Urs und Marlies Graf regelmässig adoptierten und zu eigenen Projekten umzubauen verstanden.

Die grosse "Gossliwiler Trilogie" hatte ihren Anstoss in einem Auftrag der Solothurner Regierung an die damaligen Filmkollektivisten Yves Yersin, Robert Boner und André Pinkus; und nach dem Krach im Filmkollektiv adoptierte Hans Stürm das darniederliegende Projekt, um den Auftrag abzuliefern. Es ist daraus ein sehr persönliches Werk von Bestand geworden. Was dogmatisch "zusammen mit den Betroffenen" hätte gestaltet werden sollen, vertrat nun als Autorenarbeit – zusammen mit der Schriftstellerin und Filmemacherin Beatrice Michel, seit jener Zeit Hans Stürms Lebensgefährtin – die Sicht und Bedürfnisse der gefilmten Menschen: mit jener Genauigkeit, die nur aus einer autorschaftlichen Haltung und Verantwortlichkeit zu konstruieren ist.

Ringen um die Form

Liest man heute die Exposés der neueren Arbeiten von Hans Stürm und Beatrice Michel, so ist unübersehbar die vertiefte Reflexion über die filmischen Methoden und das Ringen um die angemessene Form. Schon in "Es ist kalt in Brandenburg" (1981, mit Niklaus Meienberg und Villi Hermann, in dessen Filmen Stürm oft als Kameramann wirkte) vertrat der Schauspieler Roger Jendly den geköpften Hitler-Attentäter. Es finden sich zahlreiche Versuche, das Problem des Nicht-Abbildbaren, Abwesenden, im dokumentarischen Film zu lösen, ohne zu verbalen Erklärungen von Gewährsleuten greifen zu müssen. Versuche, die Beschränkungen des bloßen Abbildens von Gefundenem zu überwinden und zum dahinter liegenden Wesen einer Sache zu kommen.

Engagement, Widerstand

Hans Stürm hat nie das Risiko gescheut, vielmehr immer wieder Gefahren herausgefordert, wenn nicht gar gesucht – als verwegener Motorradfahrer (wie Niklaus Meienberg); im Engagement für die Asylbewegung; im lebensgefährlichen Hungerstreik für die kurdischen Flüchtlinge, denen er Schutz und Heim geboten hat; zuletzt noch als Regatten-Segler auf dem Mittelmeer.

"Mir fällt es ziemlich schwer zur Zeit, in der Filmarbeit eine bemerkenswerte [...] Leistung im Sinn von politischem, kulturellem Widerstand zu sehen. Manchmal sehe ich mich mit der Filmerei überhaupt in einem totalen Widerspruch zu dem, [...]was Widerstand hier, heute sein müsste" steht im Drehbuch des aus politischen Gründen überall abgelehnten "SchereSteinPapier" (1988), der wohl am weitesten avancierte Film von Stürm und Michel geworden wäre, hätte man ihn machen lassen. Er handelte von Widerstand und Isolationsfolter – Themen, die sich für Staatskunstwerke nicht eignen.

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Hans Stürm war der sprichwörtliche Autorproduzent in dem Sinne, wie er heutzutag von einer marktanbetenden Generation als Zerstörer des Schweizer Films denunziert und von den Behörden beargwöhnt wird: zwar eingebettet in ein Atelierkollektiv, das in den widrigen Zeiten das Fehlen initiativer und mutiger Dokumentarfilmproduzenten wenigstens teilweise ersetzen kann, war er Produzent, um aufrecht Autor bleiben zu können.

Mathias Knauer