MATHIAS KNAUER
Mag 1968 den aus bürgerlichem Milieu stammenden jungen Absolventen der Pariser Filmschule IDHEC zunächst nur das Verbotene gelockt haben, als er seinen ersten Film ohne Dreherlaubnis im Untergrund der Pariser Metro drehte, um so zu ungesehenen Bildern zu kommen, so wandte er sich unterm Eindruck der Studentenbewegung direkt politischen Themen zu. Zur Wohnungsfrage, nach Engels' berühmtem Aufsatz ein Filmessay über Ware und Herrschaftsinstrument Wohnung, war einer der ersten Schweizer Filme der Bewegung, die bekanntlich erst mit einer gewissen Verzögerung im Film ihren Widerhall fand (die Filmcooperative Zürich wurde erst 1972 gegründet, als Jürg Hasslers Krawall herauskam).
Ein großes Projekt über die Mitbestimmung, das Hans Stürm einige Jahre beschäftigte, scheiterte schließlich vor geschlossenen Betriebstoren, so wie später andere vor den Gremien. Während dieser Arbeiten wurde in einer Bieler Klavierfabrik Burger & Jacobi gestreikt, und die Bauarbeitergewerkschaft gab 30'000 Franken, um das Ereignis zu dokumentieren. Mit minimalen Mitteln drehten Hans und Nina Stürm mit Hansueli Schenkel die wenigen Rollen, die später fast bis zum letzten Meter in Ein Streik ist keine Sonntagschule verwendet wurden.
Aus der Not geboren entstand aus Dokumenten eine Poetik – was aus dem Zuschleifen der spärlichen Materialien hervorging, hatte eine eigene, strenge Qualität. Der Schreibende war damals als Lehrling dazugestoßen und erinnert sich, dass wir, trotz des Erfolgs in Solothurn 1975, das Werklein für zu bescheiden hielten, einen Preis an einem Festival zu holen. Hans Stürm fuhr nicht einmal nach Oberhausen, wo der Film dann den Grossen Preis und vier weitere erhielt.
Mehrere Filme entstanden nun als Gruppenarbeiten des Filmkollektivs: Kaiseraugst, Lieber Herr Doktor, Cinéma mort ou vif? Bemerkenswert indes – die historische Distanz lässt das heute überraschend deutlich hervortreten– dass alle diese Filme eine Handschrift hatten, die wesentlich von Hans Stürm mitgeprägt war und sich in seinen späteren Arbeiten gereift wie Es ist kalt in Brandenburg oder Sertschawan wiederfindet.
Nicht nur die Bildkraft, Plastizität und Raumtiefe seiner Bilder, der radikale Anspruch auf Materialität und Wahrhaftigkeit des Abbilds wären hier zu nennen; es gründet die Qualität von Stürms Schaffen wesentlich in der gedanklichen Durchdringung aller aufgegriffenen Stoffe.
Denn mancher Stoff wird einem Dokumentarfilmer ja zugetrieben, ohne dass er ihn gesucht hätte: waren es früher politische Kampagnen, so später gelegentlich Aufträge, die Stürm wie Urs und Marlies Graf zu eigenen Projekten umbauten. Die große Gossliwiler Trilogie hatte ihren Anstoss in einem Auftrag der Solothurner Regierung an drei vormalige Filmkollektivisten; nach dem Krach adoptierte Hans Stürm das Projekt, um den Auftrag abzuliefern. Es ist daraus ein sehr persönliches Werk von Bestand geworden. Was dogmatisch "zusammen mit den Betroffenen" hätte gestaltet werden sollen, vertrat nun als Autorenarbeit – zusammen mit der Schriftstellerin Beatrice Michel, seit jener Zeit Hans Stürms Lebensgefährtin – kunstvoll die Sicht und Bedürfnisse der gefilmten Menschen: mit jener Genauigkeit, die nur aus einer autorschaftlichen Haltung und Verantwortlichkeit heraus zu konstruieren ist.
Hans Stürm war der sprichwörtliche Autorproduzent in dem Sinne, wie er heutzutag von der erfolgsabhängigen Generation als Zerstörer des Schweizer Films denunziert und von den Behörden behindert wird: zwar eingebettet in ein Atelierkollektiv, das in den widrigen Zeiten das Fehlen initiativer und mutiger Dokumentarfilmproduzenten wenigstens teilweise ersetzen kann, war er Produzent, um aufrecht Autor bleiben zu können.
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Eine Abschiedsfeier fand am Samstag, 6. Juli um 16 Uhr in der Zürcher Predigerkirche statt.
Bio-/Filmografie Hans Stürm
[© 2002 M. Knauer – Aus Wochen-Zeitung, 4. Juli 2002, mit freundlicher Genehmigung (vollst. Version)]