aus: Dokumentarfilme aus der Schweiz von "Nice-Time" bis "Früchte der Arbeit"
hgg. vom Kellerkino Bern., Bernard Giger, Theres Scherer, Januar 1977.
(Zwischentitel von mk.)
Auch nach längerem Nachdenken gelingt es mir nicht, den Begriff Dokumentarfilm einigermassen sinnvoll zu definieren, und wie ich so höre, geht es einigen unter meinen Kollegen diesbezüglich auch nicht besser; noch schwerer fällt es mir, darüber klar zu werden, was als schweizerisch an unseren Filmen zu bestimmen wäre. Und doch, besonders bei unserem Film "Ein Streik ist keine Sonntagschule", haben uns Leute in Deutschland wie in Frankreich immer wieder gesagt, dass das ein sehr schweizerischer Film sei, nicht nur der Arbeiter im Film wegen, sondern auch seiner Art nach, seinem Ton nach, seinem Rhythmus nach - und 'schweizerisch' war hier als etwas Wertvolles verstanden; das hat mich immer sehr unsicher gemacht.
Mit dem, was ich nun im folgenden sage, erhebe ich keinesfalls den Anspruch, etwas Allgemeingültiges auszudrücken, und wenn ich schon mal verallgemeinere, so beschränkt sich das noch immer auf das Dokumentarfilmschaffen in der deutschsprachigen Schweiz.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn wir Filmer schon nicht wissen, wie der Begriff Dokumentarfilm zu definieren sei, bei unserem Publikum (vor allem bei den filmkundlich nicht geschulten Leuten) oft ziemlich eindeutige Vorstellungen da sind: ein Dokumentarfilm ist ein Film, der die Realität zeigt, und seine Werteinschätzung heisst 'wahrheitsgetreu' oder 'verfälscht' (ein Spielfilm ist erfunden, d.h. spannend oder langweilig). Natürlich betrachten wir Filmer dies als eine allzu simple oder auch falsche Einschätzung; nur, ich glaube, dass wir Filmer durch unsere Filme zu einem guten Teil auch dafür verantwortlich sind. Wenn ich die Entwicklung des schweizerischen Dokumentarfilmschaffens ab Mitte der 60iger Jahre und meine eigene Filmertätigkeit überblicke, so fallen mir jedenfalls nicht wenige Beispiele von Filmen und Filmern ein, die mit dem Anschein des Wahrheitsfinders und Lehrmeisters daherkommen.
Mein Anliegen und meine Motivation in meiner eigenen Filmarbeit ist nach wie vor der Gedanke, Filme machen zu können, die in den gesellschaftspolitischen Prozess eingreifen und zur Entwicklung einer sozialistischen (d.h. demokratischen) Gesellschaft ihren bescheidenen Beitrag leisten. Der Unterschied zu meiner früheren Filmertätigkeit liegt hauptsächlich darin, dass ich heute klarer sehe, dass mit diesem Grundsatz allein noch gar nichts geleistet ist. Heute sprechen wir vom 'emanzipatorischen Film', wenn wir unsere Intentionen beschreiben wollen, was wir damit meinen, kann ich vielleicht etwas verdeutlichen, wenn ich hier einige Aspekte unserer bisherigen Filmarbeit beschreibe, nicht in einer systematischen Analyse, aber doch unter dem Blickwinkel der entscheidenden Faktoren: den jeweils gegebenen Produktionsbedingungen, den individuellen Voraussetzungen (persönliche Motivationen, eigenes Selbstverständnis und Bewusstsein) und den sich verändernden Beziehungen zum Publikum und zu den Filmerkollegen und Konkurrenten.
Das IDHEC (Filmhochschule in Paris) bot mir eine handwerklich -technische Ausbildung für die Funktion eines angehenden Kameramannes in der kommerziell bestimmten, arbeitsteilig und hierarchisch strukturierten Spielfilmproduktion; zur Frage, warum Filme machen und daraus welche Filme, bot die eigentliche Ausbildung am IDHEC überhaupt keine Anregung. Die Bedeutung der Frage nach meinem Selbstverständnis als Filmemacher und der elitäre, unkritische Lehrbetrieb am IDHEC führten mich dazu, vorerst nicht weiter unreflektiert ambitiösen Spielfilmkarrierevorstellungen nachzugehen, sondern eine eigene Position und eigene Arbeitsweise zu suchen. Da war vorerst einmal die ungeheure Diskrepanz meiner bisherigen Erfahrungen und Prägungen durch die familiäre Herkunft (katholisch-konservativ und kapitalistisch-liberal) und die kleinstädtische Umgebung (Kantonsschule St. Gallen und Universität Fribourg) zu den Eindrücken der sozialen, physischen und psychischen Lebensbedingungen in der Grossstadt Paris.
"Metro" (1968) ist für mich der sehr auf uns selbst bezogene Versuch, Filmsprache, Kamera, Montage, Ton (Geräusche) zu erproben, an einem Sujet natürlich, das uns sehr beeindruckt hat. Neben unserer eigenen Arbeitskraft und der Unterstützung von Freunden standen uns als finanzielle Mittel einzig die 20'000 Franken Herstellungsbeitrag des EDI zur Verfügung; eine schon damals nicht gerade vernünftige, aber eine für den Rahmen und die Intentionen dieses Projektes noch mögliche Produktionsgrundlage.
"Metro" hatte in Solothurn 1968 einen relativen Erfolg; für mich war es auf dem Hintergrund der damaligen politischen Entwicklung ein produktiver Misserfolg, mein Fazit: "Metro" erschien mir vom Publikum her beurteilt so ziemlich ebenso überflüssig wie die allermeisten anderen Filme des damaligen neuen Schweizerfilms auch.
"Zur Wohnungsfrage 1972" war dann unsere Reaktion auf unser Insidertum und auf das Insidertum, das in allzu vielen Schweizer Filmen herrschte (Wald- und Wiesenläuferfilme", Solothurn 1968). Mit "Zur Wohnungsfrage" wollten wir 'unserem Publikum' etwas bieten (unser Publikum war dabei eine sehr abstrakte Vorstellung): Informationen, Analysen, Folgerungen über die ökonomischen und politischen Hintergründe in der Stadt- und Siedlungsplanung; gemeint war, das Publikum sollte im Film etwas 'lernen können'. In dieser Entwicklung ergab sich für mich ein schwerwiegender Widerspruch zwischen dem, was wir machten und dem Bedürfnis unmittelbar zu handeln und mit unseren (Film-)Opfern solidarisch zu werden: 'Wir waren in Berlin, in der "hauseigenen" Obdachlosensiedlung des Märkischen Viertels, während drei Tagen bei einer Familie in der Notunterkunft zu Gast (Vater Hilfsarbeiter, Alkoholiker, sieben Kinder, drei Räume, man kann nicht sagen Zimmer, ohne eigenes WC etc.). Wir hatten lange und intensive Gespräche mit ihnen geführt - und etliche Meter Film belichtet. Als wir uns dann verabschieden wollten, fasste mich die Frau am Arm und fragte: "Wie ist das nun, bekommen wir eine Wohnung?" Ich habe mich dann ernsthaft gefragt, ob es nicht wichtigeres zu tun gäbe, als Filme zu machen - und diese Frage stelle ich mir heute noch öfters.
"Zur Wohnungsfrage" wurde mit einem Herstellungsbeitrag von 22'500 Franken, mit eigenen 10'000 Franken und vor allem mit der einmal mehr praktisch gratis geleisteten Arbeit aller Beteiligten produziert. Im Unterschied zu "Metro" ist "Wohnungsfrage" doch kein Schubladenfilm geworden und hat auch in Relation zu seinen Produktionskosten respektable Rückflüsse erbracht (Fernsehverkäufe und Lizenzen im Ausland); immerhin soviel, dass im Nachhinein die geleistete Arbeit entschädigt werden und eine Grundlage für weitere Filmarbeit gelegt werden konnte (Qualitätsprämie: 20'000 Franken).
"Zur Wohnungsfrage" wurde 1972 in Solothurn uraufgeführt; ich erinnere mich gut an ein Votum von Rolf Lyssy in der folgenden Filmdiskussion, der sagte, er verstehe nicht, wie es kommt, dass wir nach "Metro" einen filmisch so schlecht gemachten Film bringen, mir erschien dies damals gegenüber den was der Film vorbrachte, eine typisch kleinbürgerliche Argumentationsweise. "Wohnungsfrage" ist ein Thesenfilm geworden, (der aber im Grunde schon damals mehr sein wollte und ansatzweise im Mittelteil auch mehr ist), was eben auch unserer damaligen Praxis und unserem politischen Bewusstsein entsprach.
Danach hat sich die Praxis meiner Filmarbeit zuerst einmal dadurch entscheidend verändert, indem ich den Film in zahlreichen Vorführungen begleitet habe und allein 1972 an ca. 50 Diskussionen mit dem Film teilnahm. Dabei konnte ich vor allem zwei Dinge lernen: erstens, dass das Verhältnis Filmer-Publikum kein Lehrer-Schüler-Verhältnis sein kann (wir merkten, dass "Wohnungsfrage" durch seine Machart viele Zuschauer einfach überfuhr, (und damit ganz entgegen unseren Intentionen bei diesen ein Gefühl der Machtlosigkeit und unbestimmten Aggression erzeugte) und zweitens, dass unsere 'Solidarität' oder unser 'Engagement' eine abstrakte Sache war und bleiben musste, solange wir als Filmer ein uns entsprechendes Sujet aussuchen (in dem wir uns selbst nicht verändern und in Frage stellen müssen und in dem die Betroffenen, die Leute, die wir filmen und die Zuschauer, von uns benutztes Material, benützte Objekte sind).
Als ich mich dann konsequenterweise mit der Mitbestimmungsdiskussion zu befassen begann, war dies für uns dann nicht mehr nur ein neues Filmsujet, sondern ebenso eine Forderung an unsere filmische Praxis und Form. Für das Projekt "Lieber Herr Direktor" bekamen wir eine Drehbuchprämie von 10'000 Franken. Wir haben mehr als ein Jahr zusammen mit Arbeitern, Betriebsräten und Gewerkschaftern an diesem Projekt gearbeitet, nicht, damit ich dann mein Drehbuch schreibe, nach dem der Film schlussendlich abgedreht wird, sondern um zu lernen und um die Voraussetzung zu schaffen für den Grundgedanken, nach de7 dieses gemeinsame Erarbeiten, die gegenseitigen Beziehungen und Beeinflussungen zum wesentlichen Gehalt (Inhalt und Form) des Films werden sollten. Das Projekt wurde in Bern als nicht förderungswürdig abgelehnt, offizielle Begründung: ohne filmische Gestaltung (an der wir noch bei keinem Film so intensiv gearbeitet und nachgedacht haben)!
Nach der ersten Vorführung von "Ein Streik ist keine Sonntagschule" (ein Film mit den Arbeitern der Klavierfabrik Burger & Jacobi in Biel über ihren fünfwöchigen Streik) sagten uns die Kollegen von B&J, dass das Machen dieses Films während des Streiks für sie wichtig gewesen sei, indem dies auf sie einen ermutigenden Einfluss gehabt habe, und dass die gemeinsame Arbeit am Film ihre Gedanken über ihre Situation und ihre Überzeugungen klarer habe werden lassen. Mehr als alle Auszeichnungen für diesen Film ist dies ein Impuls für mich, zu versuchen, weiter in dieser Richtung zu arbeiten.
Ich sage hier mit Absicht, zu versuchen, denn nun zeigt sich mit aller Deutlichkeit ein neuer Widerspruch. "Ein Streik ist keine Sonntagschule" haben wir ohne irgendwelche Mittel angefangen, allein mit der Zusage der Gewerkschaft Bau + Holz auf einen Unterstützungsbeitrag von 10'000 Franken, im nachhinein hat sie diesen Beitrag noch um 5'000 Franken erhöht. Für den Rest haben wir unser Sparguthaben von ca. 15'000 Franken bei der Bank liquidiert.
Die Ablehnung von `Lieber Herr Direktor" und die Nur-Studienprämie für "Ein Streik ist keine Sonntagschule" (10'000 Franken minus 4'000 Franken Kopiekosten) machen uns klar, dass die Filmkommission in Bern nicht die Absicht hat, unsere, respektive diese Art von Film und Filmarbeit zu fördern. Auch wenn "Ein Streik ist keine Sonntagschule" wiederum in Relation zu seinen Produktionskosten in der Schweiz, vor allem aber in Deutschland (Fernsehauswertung und Lizenzen) erhebliche Mittel einbrachte, heisst das doch, dass wir uns heute nicht mehr auf die hier allgemeingültige Produktionsgrundlage (nämlich mindestens 50 % Bundessubvention) abstützen können. Damit wird auch klar, dass wir bis anhin unter dem gelegentlich verdeckten Widerspruch gearbeitet haben; einerseits wollen wir Filme machen, die die Sache der Leute in unserem Land vertreten, die weder Macht noch Geld haben, über unsere Produktionsmittel verfügten aber die, die bei uns die Macht haben, oder diese verwalten.
Wir brauchen noch immer den Begriff unabhängiges Filmschaffen, resp. unabhängige Filmer, mit dem wir uns und unsere Filme von der Auftragsproduktion abgrenzen. Doch ich glaube, dass wir, die meisten der sogenannten unabhängigen Schweizer Filmer die Realität in unserem Handeln und Funktionieren cachieren. Was die relativ klare Abhängigkeit des Auftraggfilmproduzenten vom Auftraggeber ist, ist bei uns die Abhängigkeit eines jeden vom Wohlwollen der Institutionen (Filmförderung und Fernsehen, die heute weitgehend zusammengehen), die Abhängigkeit vom eigenen Marktwert im herrschenden Kultur- und Medienbereich; es ist die vielleicht schlimmere Abhängigkeit, der Zwang, im mehr oder weniger offenen Kampf jedes gegen jeden um den dort verteilten Kuchen, der zudem unter den stetig steigenden Budgets und Ambitionen und der ebenfalls stetig steigenden Zahl der Anwärter 'teurer' und 'teurer' wird.
Diese Abhängigkeit resultiert natürlich auch aus dem Umstand, dass der sogenannte unabhängige Schweizer Film oft oder sogar meist gar kein Publikum hat. Auf was das zurückzuführen ist, kann hier nicht im Detail ausgeführt werden; wir können dies der Filmwirtschaft anlasten, die sich total um uns foutiert, oder dem Fernsehen, das offensichtlich keine Neigung hat, mit uns zusammenzuarbeiten, oder der Filmförderung, die es unterlässt, wesentliche Anstrengungen zur Förderung der Infrastruktur für die Verbreitung der Filme zu machen. Das hat alles seine Richtigkeit, nicht zuletzt jedoch wäre den Filmern selbst anzulasten, dass sie oft nur an der Produktion ihrer eigenen Filme interessiert sind, auf eine Qualitätsprämie und allenfalls einige Festivalauszeichnungen aspirieren, die Kleinarbeit der Verbreitung der Filme unter den Leuten eher scheuen oder sich desinteressieren.
In diesem Zusammenhang müsste man auch die Tätigkeit des Filmpools unter die Lupe nehmen. Ausgehend von der wichtigen und richtigen Grundidee, alle Filme zusammenzufassen und an einer Stelle verfügbar zu machen, ist der Filmpool bis anhin doch nicht viel mehr als eine Verwaltungsstelle geworden, dies vor allem darum, weil für allzuviele Filmer der Filmpool auch nicht mehr ist, als der Ort, wo man bequem seine Kopien deponieren kann, sich damit der Aufgabe der Verbreitung der Filme entledigt und weiter keine Zeit verliert im grossen Rennen.
Es geht mir hier nicht darum, unsere Vorführtätigkeit, d.h. begleitete Vorführungen und Diskussionen als das allein Richtige hinzustellen, doch für meinen Teil habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Filmarbeit nützlich, fruchtbar und spannend ist - und wenn wir von einem unabhängigen Filmschaffen reden wollen, unbedingt nötig ist.
Was ich bis hierhin geschrieben habe, ist nicht sehr präzis und mangelt entschieden der politisch bewussten Reflexion – seit einem Jahr existiert das Filmkollektiv als Produktionsgemeinschaft und es gibt die Filmcooperative als Verleih- und Vorführorganisation, dort soll dies geleistet und erlernt werden, nämlich die Reflexion in und durch die Praxis. Der Erfolg oder Misserfolg dieser neuen Filmarbeit ist nach einem Jahr noch nicht überblickbar - also gilt für mich einmal mehr, entweder wir schaffen es, oder die Frage, ob es nicht wichtigeres zu tun gäbe, als Filme zu machen.
© 1977 Hans Stürm.