Urs Peter Schneider – 36 Existenzen

Filmbesprechungen

Mit fetter Auszeichnung von wertenden Aussagen.


Zur Vorführung der Rohmontage des Films in Bern, anlässlich der Uraufführung der Musik.

Der Bund, 28.6.04, Marianne Mühlemann.

Mit Salzkorn Katastrophe auslösen.

Was macht ein Komponist beim Komponieren? Das Filmporträt "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen", das im Rahmen des zweitägigen Festivals in der Dampfzentrale gezeigt wurde, liess auf eindrückliche Weise miterleben, wie ein Musikstück entsteht.

Er träume von einem "1- bis 4-stimmigen Stück, das aus ganz verschiedenartigen kleinsten Teilchen bestehe, die aber alle miteinander vernetzt seien" schrieb Urs Peter Schneider dem Filmemacher Urs Graf vor mehr als einem Jahr. Der lange Weg von diesem allerersten Brief bis zu den fertigen Stücken "17 Existenzen", Sakrale Tänze und Kontertänze für 5 Instrumente in hoher Lage, und "19 Existenzen", Profane Tänze und Kontertänze, für 7 Instrumente in tiefer Lage, die im Rahmen des Festivals "Zwillinge, zweieiige" in der Dampfzentrale uraufgeführt wurden, ist Gegenstand des Films "Ins Unbekannte der Musik".

Über ein Jahr lang hat der Filmemacher Urs Graf den Bieler Komponisten und Improvisator, Pianisten und Pädagogen Urs Peter Schneider mit der Kamera begleitet.

Seine Dokumentation eines künstlerischen Prozesses vermag in stillen, authentischen Bildern einen Einblick in das vielschichtige Leben und Arbeiten von Urs Peter Schneider und seiner Ehefrau, der Künstlerin Marion Leyh, zu geben. Und in nur 74 Minuten die wuchernde Komplexität der körperlosen, vitalen Gedankengänge des eigenwilligen Musikers zu bündeln, ohne ihn durch die Fixierung durch die Bilder Gewalt anzutun.

Blick nach aussen und nach innen.

Streng und ordnungsstiftend ist Grafs Bildsprache, präsent und dennoch stets unaufdringlich, wenn er Gespräche über Musik "mithört", wenn er Schneider beim "Pröblen und Chnürzlen" über die Schulter schaut oder an privaten Orten des Austausches zwischen Künstlerinnen und Künstlern mit dabei ist. Monat für Monat filmte Graf durch das Fenster in Schneiders Bieler Arbeitszimmer, und hinausblickend nimmt man die Veränderungen der Tages- und Jahreszeiten wahr als leitmotivische Permutationen und fixe Parzellen aus einem grösseren, unbekannten Ganzen, das dem Blick verborgen bleibt und dem man in Schneiders Musik nachspürt: Der Blick hinaus ist gleichzeitig ein faszinierender Blick hinein, in eine hermetische Gedankenwelt, einen Kosmos, in dem - wie in Urs Peter Schneiders Schaffen - der vermeintliche Zufall das Resultat einer eingehenden Selbstbefragung ist und das vermeintliche Chaos das Resultat einer bis ins Detail führenden Formalisierung und Gedankenkontrolle.

"36 Existenzen" ist der erste Film eines Projekts von drei Filmen zum Schaffen von zwei zeitgenössischen Komponisten (Urs Peter Schneider, Jahrgang 1939, Jürg Frey, 1953) und einer Komponistin (Annette Schmucki, 1968) von sehr unterschiedlicher ästhetischer Ausrichtung. In Urs Peter Schneiders vergeistigtem Komponieren wird der risikoreiche Seiltanz zwischen den Regeln und der grenzenlosen Freiheit erahn- und die Schere fühlbar, die sich auftut zwischen zu persönlichem Komponieren (das Schneider zu wenig interessant findet) und der Utopie eines auf den Kosmos bezogenen Komponierens, in dem "ein Salzkorn die Katastrophe auslöst".

Beide Stücke - die in der Hörtextur eher einförmigen, neutralen "17 Existenzen" für Oboe, Viola, Hammondorgel, Cello und Fagott, und die tänzerisch-heiteren, mit Namen und Geburtsdaten von Personen aus Schneiders Freundeskreis codierten "19 Existenzen" für Baritonoboe, Viola, Horn, Hammondorgel, Fagott, Cello und Tuba - sind höchst abstrakte Stücke "senza fine": In aphoristischen, vom Ensemble mit Souplesse gestalteten Einheiten zeigen sie einen Ausschnitt aus einem klingenden Kontinuum und erzählen von Möglichkeiten, die der Komponist auf der Suche "nach der einfachsten Form, die das Komplexeste auszudrücken" vermag, in Gang gesetzt hat.

Andreas Fatton, Dissonanz 87, September 04

Urs Graf präsentierte mit seiner Werkfassung "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen" eine sich über ein Jahr hinziehende Dokumentation zur Entstehungsgeschichte zweier Kompositionen (17 Existenzen und 19 Existenzen), die im Anschluss nicht nur aufgeführt, sondern selbst wieder zur Fertigstellung des Films aufgezeichnet werden. In höchst formaler Durchführung folgt Graf hier den zeitlichen Entstehungsprozessen, ohne jene zu bedrängen. In einer klar definierten Filmsprache greift Graf zu vielschichtigen Mitteln der Kommunikation mit bzw. der Annäherung an Schneider (Gespräch, Briefwechsel, Musikbeispiele), die in einigen Momenten freilich auch ins Überdeutliche gleiten.


Uraufführung, Solothurner Filmtage 2006 

Christoph Egger, Neue Zürcher Zeitung, 23.1.06

Künstlerische Wege sichtbar macht auf sehr anschauliche Weise "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen" von Urs Graf. Die Uraufführungen zweier Stücke des Bieler Komponisten am Schluss wird richtigerweise nicht zum "Höhepunkt" des Films, sondern führt in ihrer herben Dokumentation zurück in die ganz andere Existenz der Kunst.

Raphael Amstutz, Bieler Tagblatt, 20.1.06

... Im Frühsommer 2004 ist dann das Ergebnis der langen Anstrengungen zu hören. Es sind schliesslich zwei Stücke entstanden. Unterschiedlich und doch zusammengehörend: "17 Existenzen, sakrale Tänze und Kontertänze für fünf Instrumente" heisst das erste, 19 Existenzen, profane Tänze und Kontertänze für sieben Instrumente" das zweite. Eine Regellosigkeit mit Regeln ist da, gleichzeitig widersprüchlich und kohärent, durchkomponiert wie eine Matrix und doch ungreifbar wie der Himmel über dem Bielersee. Urs Graf ist mit der Dokumentation "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen" ein sorgfältig montierter und nuancierter Film gelungen: spannend, intensiv, witzig und ungemein hintergründig. Graf sieht was Schneider hört. Ein Film, der was vielleicht überraschen mag, auch allen Nichtmusikern zu empfehlen ist.

Film-Dienst, Deutschland, Februar 2006, Hans Messias

... Noch nachhaltiger wirkt "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen" von Urs Graf. Graf vereinbart mit dem emeritierten Musikwissenschaftler und Komponisten neuer Musik die Komposition eines Stückes und begleitet dessen Geburt über den Zeitraum eines Jahres. Daraus entwickelt sich einer der faszinierendsten Dokumentarfilme, die in diesem Jahr in Solothurn zu sehen waren. Was zum einen mit Schneiders jovialer Persönlichkeit zu tun hat, deren Herzlichkeit sich überträgt, weit mehr aber noch mit dem gewagten Experiment, das einen schöpferischen Akt nachvollziehbar macht. Zwar wird der Laie mit vielen Fakten überfordert und kann am Ende nicht sagen, wie die Musik denn nun eigentlich zustande gekommen ist, hat aber doch das Gefühl, in das Denken und Handeln Schneiders eingebunden zu werden. Schnell muss man sich von der klassischen Vorstellung verabschieden, dass da jemand am Klavier sitzt und ihm Töne entlockt, um sie möglichst harmonisch aneinander zu reihen. Schneider geht analythisch-mathematisch vor, schafft Grundlagen, in diesem Fall die Initialen und Geburtsdaten von Bekannten, die er mit einem Grundton in Korrelation setzt, um durch eine Veränderung der Perspektiven und etliche Paradigmenwechsel etwas Neues zu schaffen, von dessen Existenz er zu Beginn selbst nichts ahnte. Grafs Film vermittelt eine Freude an der Kreativität. Schliesslich entdeckt Schneider gar, dass seine Komposition, die "19 Existenzen" heissen soll, unwissentlich ein "Schwesterchen" bekommen hat: "17 Existenzen". Beide erstaunlich harmonischen Stücke werden am Ende des Films aufgeführt.


Mittelland Zeitung/Solothurner Zeitung, Oltner Tagblatt, Verena Zimmermann

Ins Unbekannte der Musik

Porträt von Leben und Arbeit: Der Komponist Urs Peter Schneider

Innenansichten eines musikalischen Entwicklungsprozesses

Dokumentarfilm-Premiere Urs Graf zeichnet das Entstehen einer musikalischen Komposition nach: "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen"

Am Anfang ist alles offen. Der Blick in ein Fenster, der Nachtfalter, die gespiegelte Kerze, der Blick auf eine angeregt sich unterhaltende Runde von Gästen in einer Wohnküche - fast beiläufig und so, als seien sie im Vorbeigehen aufgenommen worden, wirken die ersten Bilder von Urs Grafs Film "Urs Peter Schneider: 36 Existenzen". Die Offenheit ist eine Grundbedingung dieses Films. Sie bestimmt die Arbeit des Komponisten ebenso wie die des Filmautors, der einen Einblick in das Entstehen eines Musikstückes erhalten möchte, "in ein künstlerisches Schaffen, das als Inbegriff des Unzugänglichen gilt" (Urs Graf zum Film). 

Im Bedürfnis, das noch nicht Bekannte zu erkunden oder, besser vielleicht, Grenzen des Bekannten zu überschreiten, trifft sich Urs Graf - der Ähnliches auch in seiner letzten grossen Arbeit "Die Zeit mit Kathrin", 1999, unternommen hat -, mit Urs Peter Schneider. Der in Biel lebende Komponist und Improvisator ist auch als Interpret tätig, war bis zum Frühling 2002 Professor an der Hochschule für Musik und Theater Bern und hat 1968 das bis heute von ihm geleitete "Ensemble Neue Horizonte Bern" mitbegründet. 

Die Arbeit, deren Entstehen Urs Graf - mit seiner Kamera und ohne Begleitteam - während eines Jahres, von August 2002 bis Herbst 2003 verfolgt hat, geht von minimalen, noch vage gefassten Vorgaben aus. "Er schreibt mir", so Urs Graf im Film: "Manchmal träume er von einem ein- bis vierstimmigen Stück, das aus ganz verschiedenartigen kleinsten Teilchen bestehe, die aber alle miteinander vernetzt seien; aber er träume erst davon." Wenig später, wenn U. P. Schneider ein Konzertpublikum in John Cage's Stück "Ryoanji" einführt, konkretisieren sich für uns Aspekte zeitgenössischer Musik. Und: "Nach dem Konzert ... habe ich mich praktisch entschieden, ein Stück zu probieren, das mehr von äusseren Einflüssen bestimmt ist wie zum Beispiel: für wen will ich schreiben..." Auch der Gedanke, auf der strukturalen Ebene mit Namen zu arbeiten, ist bereits da. Aber die Vorgaben sind das eine, das andere ist die Sehnsucht, "soweit wie möglich zu formalisieren, so dass es sich eigentlich dann zugleich gerade wieder meiner Kontrolle entzieht." 


Eine Vielzahl von Motivsträngen legt Urs Graf von Beginn an ineinander, zu einer Film-Struktur, die zeitliche Abläufe erfahrbar macht - die Dauer vom Beginn der Zusammenarbeit an, das Warten auf eine nächste, mitteilbare Entwicklung im Kompositionsprozess, die nach etwa einer ersten halben Filmstunde in ein langes Erklären im Gespräch zwischen Musiker und Filmautor mündet. Es sind zwei, das wird auch hier deutlich, die diesen Film tragen. 

Die Bilder sind Fragmente auch aus der eigenen Geschichte des Autors. Sie erzählen etwas davon, wie Urs Graf in diesem Haus, das Wohn- und Arbeitsort ist, umhergeht, aus den Fenstern schaut, auf das Nahe hinter den Scheiben - den Garten, eine Böschung, die Katze. Im Sommer bewegt er sich vor dem Haus. Oder der Blick geht in die Weite, über den See. Die Selbstverständlichkeit des Alltags, die Urs Graf in immer wieder variierten Kamera-Blickwinkeln zeigt, wirkt hier ebenso intensiv wie das Arbeiten. Marion Leyh ist Teil dieses Alltags, Urs Peter Schneiders Lebenspartnerin, Künstlerin und Gestalterin auch sie. Nach Schauspiel und Bühnenbildnerei befasst sie sich heute, auch als Dozentin, mit Installation und szenischer Performance, was dem Musiker U.P. Schneider und seinen Überlegungen, wie Musik darzubieten sei, wesentliche Impulse gegeben hat. 

Zuletzt hören wir nur noch zu. Zwei Kompositionen, "19 Existenzen" und "17 Existenzen", werden am 25. Juni 2004 im Rahmen des Festivals "Zwillinge, zweieiige" in der Dampfzentrale Bern uraufgeführt. Im Bild die Musiker, die Instrumente in einer das Akustische intensivierenden Lichtführung. Nichts stört die Konzentration. Die Kamera hat hier Otmar Schmid geführt. 

Am Anfang war alles offen. Arbeitsphasen waren mitzuvollziehen. Die Musik, der wir zum Schluss lauschen, ist dennoch eine ganz frische, neue Erfahrung. Wieder ist alles offen, kann der lange Schlussteil des Films als Anfang genommen werden - eines Wieder- und Wiederhörens, einer Auseinandersetzung mit musikalischen Strukturen.

Projektiert hat Urs Graf eine dreiteilige Filmreihe "Ins Unbekannte der Musik". Für den zweiten Film mit Jürg Frey hat Urs Graf die Arbeit inzwischen aufgenommen. 


Musik-Zeitung, Frühjahr 2006, Johannes von Arx 

Die "Existenzen" des Urs Peter Schneiders im Film von Urs Graf

Eine Künstlerpersönlichkeit, eine Werkstatt der Klänge, ein Leben in freundlicher Umgebung und eine Musik der ungewohnten Art. All dies in einem Ton-Bild-Medium zu vermitteln ist kein leichtes Unterfangen. Urs Graf hat den richtigen Ton getroffen. An den Solothurner Filmtagen wurde der Film "36 Existenzen" uraufgeführt. Ein Porträt eines Porträts.

Ein paar Dutzend Höhenmeter über dem Bielersee steht ein altes Haus. Keine ausgehöhlte Loft mit Panoramafenstern, welche einen freien Fluss der Inspiration gewährleistet. Doch der Balkon, die grüne Umgebung und die Weite der Landschaft vermögen die Intimität der zwei Atelierräume von Urs Peter Schneider zu kompensieren. Und so nimmt denn der 92 Minuten lange Film von Urs Graf eingangs diese Stimmung auf, just am schweizerischen Nationalfeiertag, dem 1. August 2002. Die Kamera blickt aus dem Fenster über den See, fokussiert auf die Rebentriebe im Vordergrund und springt dann über die hohen Gestelle mit den ungezählten Tonbändern. Und um es gleich zu Beginn festzuhalten: Die "36 Existenzen" - so der Titel des entstehenden Werkes - sind kein Schwertransporter mit einer Überfracht an Musik, um ja möglichst viele der Erfolge des Komponisten zu "vermitteln". Schneider am Kochherd die Suppe abschmeckend, im Gespräch mit den verschiedenartigsten Leuten, auf den Bus wartend und, immer wieder, eine Zigarre schmauchend - stets mit stimmigen Umgebungsgeräuschen unterlegt, nie aber mit aufdringlicher Musik. Wenn er dann in die Tasten greift, tönt es nach dem Alten Testament des Klaviers und … Moment mal: ein unwahrscheinlich driviges Stück Klassik oder was? Völlig unbekannt. Oder schon was vom "Sauschneider" gehört? Genau vom "Capriccio G-dur Acht Sauschneider"? Und aus wessen Feder das zu Unrecht vernachlässigte Stück wohl stammt? 

"Der Leim muss weg"

"36 Existenzen" ist kein Film, der die Sache - den komplexen Kompositionsprozess - schnell auf den Punkt bringt, auf dass ja niemand im Kinosaal von Langeweile befallen werde. Zuerst werden die Zuschauenden und Zuhörenden in den Saal des Centre PasquArt in Biel entführt, wo Schneider Werke von John Cage spielt und ihn einführend zitiert: "Die Töne sind so frei wie die Menschen auch sein sollten, die dann diesen Tönen zuhören." Schon das erste Stück von Cage - "Solo für Piano" - sei "der Prototyp einer absolut anarchistischen Musik, in der alle Töne die Sie hören, im jeweiligen Moment anhörenswert sind, aber überhaupt keinen Zusammenhang eingehen." Ausser dem vielleicht, dass sie in einer zeitlichen oder geografischen Nähe stünden. "Der Leim zwischen den Ereignissen muss weg, die Töne müssen eine eigene Existenz führen." 


Schnitt. Die Katze des Nachbarn möchte sich auch verewigt sehen in den "36 Existenzen". Atem holen vor dem Gang in Medias Res. Der Abstecher zu Cage zuvor wird sich noch als hilfreich fürs Verständnis erweisen. Denn genau so schwer wie es sich der Komponist macht, eine Idee in Töne umzusetzen, genau so anspruchsvoll, aber auch vergnüglich für die Rezipienten des Films ist der Gang durch den ein ganzes Jahr dauernden Kompositionsprozess, der in einem weiten Bogen Intuition mit mathematischem Prozess (Algorithmus) verbindet. Auch Urs Graf macht sich seine Aufgabe nicht leicht. 

Das Duo Urs und Urs

Urs Graf ist einer der bedeutendsten Vertreter des kritischen Dokumentarfilms mit Wurzeln in den Siebziger-Jahren ("z.B. Uniformen", 1969). 1975 wurde der Oltner Mitglied des heute noch existierenden Filmkollektiv Zürich. Vor einigen Jahren besuchte er die Veranstaltungsreihe "struktur - erscheinung - ästhetik" der "ag fabrikkomposition" in Zürich. Musiker hatten 1999 andere Kunstschaffende eingeladen, um sich ein Jahr lang über ihre ästhetischen Ansprüche und ihre Praxis auszutauschen. Und dort hat dann der eine Urs den andern Urs kennen gelernt. Graf begann sich für Schneiders komplexe Musik zu interessieren - und für seine Persönlichkeit. "Magst Du mit mir einen Film machen?", war dann die folgerichtige Frage an Schneider. Und dieser machte mit und beide nahmen sich Zeit, viel Zeit für dieses Projekt, woraus sich dann auch eine intensive Freundschaft entwickelte. Die Fülle der Blickwinkel schlägt sich auf die formale Gliederung des Films nieder: Begegnungen mit seiner ebenfalls künstlerisch tätigen Frau Marion Leyh, Studenten, die Szene auf dem Friedhof bei Zullwil am Grabstein seines Freundes, des Komponisten Hermann Meier, eine gemächliche Fahrt auf dem Bielersee und immer wieder musikalische Episoden - dies sind die Ruhepole, welche das Hauptthema des Films tragen. Damit sind wir endgültig mit der Arbeit des Urs Peter Schneider konfrontiert. 

Für den Komponisten ist die "horizontale" Dimension mit Parametern wie Rhythmus, Zeit-Erstreckung, Zeitverschobenheit, Dauer, Tempo sowie Artikulation, gleichrangig der "vertikalen" mit ihren Tonhöhen, Registern, Lautstärken, Instrumentationen. Allein fürs "pröble" mit diesen ineinander spielenden zehn bis zwölf Ebenen braucht er jeweils mehrere Wochen; er arbeitet dicht am Material, antihysterisch, selbstbewusst, ganz eigen.

Lebensdaten versus 3,14159…

Dazu kommt eine kleine Dateisammlung als Keimzelle für die anvisierten Musikstücke "Existenzen" von kleinen Zetteln, auf denen etwa steht: "27.2.62 ML, weiblich" oder "13.10.40 UG, männlich". Und darunter vielleicht kleine Texte, eventuell auch nur ein Wort: "die Substruktur, die ich nachher brauche, um sie abzubilden in Musik". Auf die Frage von Urs: "Und warum gehst du von Namen aus? Ich meine, du könntest gerade so gut würfeln", holt Urs Peter zu einem lebensphilosophischen Exkurs aus, der viel später so endet: "…es ist weniger abstrakt, es hat etwas zu tun mit Geburt, dem Thema Geburt, das Thema Biografie ist verdeckt, nicht dass ich es veröffentlichen will, aber es ist unterschwellig vorhanden, und das gibt mir ein anderes Gefühl, als wenn ich einfach die Zahl Pi nehme, was ich auch schon gemacht habe." Und so folgt die Kamera von Urs Graf sensibel dem weiteren - recht komplexen - Verlauf der Kompositionsarbeit.

Der Schluss des Films lässt Raum für die Uraufführung der beiden Stücke "19 Existenzen - Profane Tänze und Kontertänze vierstimmig, für 7 Instrumente in tiefer Lage" sowie "17 Existenzen" - Sakrale Tänze und Kontertänze, dreistimmig, für 5 Instrumente in hoher Lage" aus dem Jahr 2003 von Urs Peter Schneider. 

Doch halt - da waren noch die "Acht Sauschneider". Richtig, der geniale Wurf stammt aus der Feder keines Geringeren als von Joseph Haydn.

"36 Existenzen" ist weit mehr als ein "vermittelnder" Film. Er macht die Beziehung einer vor Ideen sprühenden Künstlerpersönlichkeit zum "Endprodukt" spürbar. Nicht zuletzt auch dank der sorgfältigen Gliederung verdient das Werk die Aufmerksamkeit eines nicht nur an Musik allein interessierten Publikums. 


Distribution: Look Now!, Gasometerstrasse 9, 8005 Zürich, Tel. 044 440 25 44, info@looknow.ch, www.looknow.ch

Urs Peter Schneider 

1939 in Bern geboren, Komponist und Improvisator, Interpret und Pädagoge. Seit 1955 komponierend, Autor von hundertvierundvierzig Kompositionen (ca. 800 Aufführungen). 1958 Abitur in Bern. Von 1959 bis 1963 Studium bei Walter Lang (Klavier) und Kurzstudium bei Sandor Veress (Komposition) in Bern. 1962 und 1963 Besuch der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Seit 1963 ausgedehnte Tätigkeit als Pianist in ganz Europa, dazu Vorträge, Publikationen, radiophonische Arbeiten. 1964 Zweiter Preis im Grossen Pembaur-Klavierwettbewerb. Von 1963 bis 1966 Studium bei Bruno Seidlhofer (Klavier) und Kurzstudium bei Karlheinz Stockhausen (Komposition) in Köln und Wien. 1966 Solistenpreis des Schweizerischen Tonkünstlervereins. Seit 1966 in Biel wohnhaft, Lehrer an der Hochschule für Musik in Bern (Klavier, später Theorie, Komposition, Ensemble fächerübergreifend), Leiter zahlreicher Gruppenprojekte (Improvisation und Neue Musik vor allem). 1968 Gründung des "Ensemble Neue Horizonte Bern" vor allem für Schweizerische und Amerikanische Avantgarde (ca. 600 Aufführungen). Seit 1973 auch frei improvisierender Musiker, etwa mit Favre, Francioli, Schweizer, Nichols, Cooper, Zorn, Micol, mit seinen Trios und als Solist. Von 1970 bis 1978 drei Kompositionspreise. Von 1971 bis 1979 künstlerischer Leiter der "Konzertgesellschaft Neue Horizonte" in Bern. 1983 Grosser Musikpreis des Kantons Bern, zusammen mit seiner ersten Frau, der Pianistin, Sopranistin und Komponistin Erika Radermacher. 1979 und 1987 vier Aufführungen an den Weltmusikfesten in Athen und Köln. Von 1981 bis 1987 drei Preise als Interpret. 1988 und 1989 erste intensive Theaterarbeit mit der Performerin, Schauspielerin und Raumgestalterin Marion Leyh, seiner zweiten Frau. 1989 Publikation des Buches "Komponieren" beim Bernischen Zytglogge-Verlag und Unterbruch seines Tonsetzens zugunsten eines einzigen Projektes "Studien" und der Niederschrift seines "Ich-Buches". Von 1967 bis 1996 insgesamt zehn Schallplatten.


Foto: Urs Peter Schneider, die Reinschrift.
Legende: Der Blick über die Schulter: Eine filmische Begleitung eines Kompositionsprozesses, der in einem weiten Bogen Intuition mit mathematischem Prozess verbindet.

Foto: Urs Peter Schneider, Flügel, Cage-Interpretation
Legende: Der Komponist und Musiker Urs Peter Schneider ist unter anderem Gründungsmitglied des Ensemble Neue Horizonte Bern.


Zu den Aufführungen im Filmpodium Biel

Bieler Tagblatt 4.11.2006

Urs Peter Schneider: 36 Existenzen. 

Der Bieler Musiker und neue Kulturpreisträger Urs Peter Schneider macht "schwierige", sperrige, ja widerspenstige Musik. Während eines Jahres hat ihn der Zürcher Filmemacher Urs Graf mit der Kamera auf der Suche nach neuen Tönen begleitet. Entstanden ist ein witziges, hintergründiges Porträt. Ein Film, der - dies mag überraschen - auch allen Nichtmusikern zu empfehlen ist.

Amstutz: ****

"Biel/Bienne" 4.11.06

Werk über Kunstwerk.

Wie entsteht ein Musikstück? Ein Jahr lang begleitet Autor Urs Graf den Bieler Komponisten Urs Peter Schneider auf einer Reise ins Unbekannte. Von den ersten Ahnungen hinweg bis zur Uraufführung eines Musikstücks ist der Filmer dabei und dokumentiert, wie ein Kunstwerk gemacht wird. Nah, verletzlich, hintergründig. Dieser Film lebt von sanften Feinheiten, abenteuerlichen Dialogen und souveräner Musik. Das Bilderexperiment gibt Einblick ins Schaffen eines aussergewöhnlichen Künstlers und zeigt ihn in seinem Innersten.