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Materialien zu
JE-KA-MI Oder Dein Glück ist ganz von dieser Welt

Redaktion: M. Knauer attacca.web@bluewin.ch – Siehe auch die Bio/Filmografie auf den Seiten zur Geschichte des Filmkollektivs

 

Roman Hollenstein beim Drehen

R.H. beim Drehen von «Freut euch des Lebens»

Synopsis von Roman Hollenstein

Je ka mi oder Dein Glück ist ganz von dieser Welt

Das grosse Rennen nach dem versprochenen Glück oder auf der Suche nach dem verlorenen Paradies Fitness ist ein Begriff dafür. Warum? Der Mensch steht heute am Abgrund, er ist hoffnungslos krank. Hoffnungslos? Er hat gesündigt also wird verkündet und ein gigantischer Apparat in Bewegung gesetzt, damit er in der Freizeit freudbetont keuche und arbeite, sich bewege und büße, um seine Aufgaben weiterhin gläubig erfüllen und sich den gegebenen Streß-Situationen anpassen zu können - und sich weiterhin unvermindert schädigen lasse. Ein Film über ein Massenphänomen und über Methoden der Anpassung: von Freikörperkultur bis zur roboterhaften Körperertüchtigung. Mens sana in corpore sano... doch das Glück rennt hinterher.
(Programmheft Solothurner Filmtage 1978)

Texte von Roman Hollenstein

Antworten von R.H. auf die Umfrage zur Publikation des Kellerkino Bern «Dokumentarfilme aus der Schweiz. 1957-1976 Von Nice Time bis Früchte der Arbeit: Materialien zur Entwicklung des Dokumentarfilms in der Schweiz» (Bern, 1977; pp. 175-181.
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Literatur

Niklaus Ingold: Fitness als Glück? Gesundheit, Umbehagen und kein Sex im Film JE KA MI
in: Stress und Unbehagen. Ed. Stephanie Kleiner, Robert Suter
o.J. (2018), o.O. (Berlin, Neofelis), pp.99-126.
ISBN 978-3-95808-041-6


Pressestimmen

... dein Glück ist ganz von dieser Welt

«Je Ka Mi...» – Roman Hollensteins letzter Film

Martin Walder, Neue Zürcher Zeitung, 10. März 1978

Im letzten Oktober hat sich der Filmemacher Roman Hollenstein 35 Jahre alt das Leben genommen – kurz vor Fertigstellung seines zweiten langen Dokumentarfilms, den Georg Janett für ihn zu Ende montiert hat. Der Film heißt «Je Ka Mi oder dein Glück ist ganz von dieser PlakatWelt», und dass der Titel nun natürlich sogleich auf Hollensteins Tod verweist, ist richtig. Vordergründig wohl eine dokumentarische Variationenschau zum Thema «Fitness» und zu seinen Ideologien, ist «Je Ka Mi ...» schließlich eine verzweifelt raffinierte, aggressive Abrechnung, die einem wiederholt übel macht mit Bildern und Tönen, die selbst vor den als Opfer gezeigten Menschen nicht mehr Respekt wahren, sondern sie als gesundheitssüchtige Produkte einer krankmachenden Welt mitunter pietätlos vor der Kamera festnageln.

In seinem Porträt dreier leicht behinderter Männer, die sich an den Normen des «Normalen» wundscheuern, hatte Roman Hollenstein in «Freut euch des Lebens» ebenfalls Opfern nachgespürt, hatte er sich mit seiner filmischen Sensibilität ganz ihrer Erlebniswelt genähert und ihnen als vollen Ernst und Würde erheischenden «Hauptdarstellern» eine Sprache gegeben. «Je Ka Mi» bringt diesen Respekt des Dokumentaristen nicht mehr auf; hier hat der Filmemacher mit böser Brillanz den Fitnesskult als gesellschaftliches Phänomen ausgeweidet, um seinen Ekel vor einer in ihren Extremen unmenschlichen Art «Gesundheit» dieser Welt dingfest zu machen. «Je Ka Mi» zieht den schockierten Zuschauer weniger in eine Auseinandersetzung als in einen Pfuhl, dessen Darstellung den Begriff des landläufig «Dokumentarischen» verläßt und gar nicht erst so tut, als gäbe es eine nicht inszenierte Darstellung von Wirklichkeit durch das wirklichkeitsnächste Medium Film.
Spielerische Freude am Sport oder auch die wohlbegründete Unruhe vieler Leute und ihre Bemühungen um einen körperlichen oder körperlichseelischen «Unterhalt» werden innerhalb des Films zu dem, was sie wirklich tun (mögen sie es vielleicht auch ganz anders empfinden), nicht in eine nachforschende Dialektik gesetzt; für den Zuschauer aber sticht aus der aufwühlenden Wirkung dieses Films die Sorge, die viele beschäftigt: wofür und wogegen und vor allem auch wie sie sich bei Kräften, als Menschen am Leben erhalten wollen. Roman Hollensteins Antwort ist in einem Horrorbild gelandet – was ihn selber betrifft: in tödlicher Absage.

Seine Recherchen durch die Gesundheitssehnsucht führen durch abgeklärten Vulgär-Darwinismus und alten, nackten «Kraft durch Freude»-Geist im Naturistencamp, führen empor in die blaue Fitnessferienluft der Berge, wo piepsende Pulsmesser das Glück in Gottes freier Natur überwachen, sie leiten täuschend hinein in duftige Photoprospekte von Wald, vor denen dann auf Fitzteppichen straffe Ertüchtigung ins Kamerablickfeld gerät, sie gucken auch in ausgeklügelte Apparaturen, aus deren Federn, Gestängen, Gewichten Muskeln schwitzen und Adern quellen. Hollenstein hat in Bürofluren und in Fabrikhallen beobachtet, wo während kurzer (als Arbeitszeit gerechneter) Fitnessminuten Arbeiter und Direktor gemeinsam «nur Menschen» sein dürfen, er filmte die Volksolympiade, den Lemmingsrun des Engadiner Skimarathons, ist unbarmherziger Voyeur beim Altersturnen und blendet zurück ins traute Heim, wo man sich an computergesteuerten Fitnessgeräten jene «hundert Dynafit» antrainiert. mit denen der Verkäufer «das Leben» beginnen läßt...

Für Roman Hollenstein freilich endet solch ertüchtigtes Leben nur an eintönigen Arbeitsplätzen, im Betondunkel monströser Wohnburgen, kurz: in einer verseuchten Weit (für die am Ende der Kaminklotz von Gösgen als Symbol herzuhalten hat). Auch schafft der durchorganisierte, kommerzialisierte und ideologisierte Drang nach Gesundheit, nach Erhaltung nicht einmal Inseln, sondern nimmt den Sport in irgendeiner Weise gleich wieder in die Zucht, spiegelt eben nur die Gesetze der Verschleißwelt verbrämt oder auch unverbrämt. Der Welt, wie sie hier vorgeführt wird, ist gar nicht mehr zu entrinnen, auch wenn sie durchaus nicht als eine schicksalsgegebene hingestellt ist. ihr Kreislauf von Streß und Therapie im Gegenstreß erscheint verrückt, aber hermetisch. Es ist durchaus eine Art Science-fiction-Welt – der Film sollte denn auch einmal den Titel «1983½» tragen: ein halbes Jahr also vor «1984. Hollenstein scherte sich nicht mehr einfühlend um Verständnis, nicht um einen wohlgeordneten Aufbau, sondern stellt wütig zur Schau, immer wieder, aufreizend ermüdend. Seine Provokationen sind Schwäche und Stärke des Films; sie abzuwehren lassen sich Gründe finden. Es bleibt dem Zuschauer aber, genau zu prüfen, wogegen er sich in seiner Betroffenheit wehrt; an «Je Ka Mi» kommt man schlecht vorbei. (City, Zürich)

 


Aus der Schweizer Fernsehgeschichte

Brief des damaligen Programmdirektors Ulrich Kündig betreffend die Ablehnung einer Ausstrahlung des Films durch das Schweizer Fernsehen.
(Als PDF herunterladen: 102 kB, hochauflösend auf Anfrage.)

Cf. [Bernhard Giger] Nicht für das Fernsehen. Warum Roman Hollensteins Film «Jekami» nicht ausgestrahlt wird. Der Bund, 27.12.1980


Roman Hollenstein im Band «Von Nice Time bis Früchte der Arbeit» (1977)

Vorbemerkung

1976 stellten Bernhard Giger und Theres Scherer im Hinblick auf die 1977 publizierte Publikation des Kellerkino Bern «Dokumentarfilme aus der Schweiz. 1957-1976 Von Nice Time bis Früchte der Arbeit: Materialien zur Entwicklung des Dokumentarfilms in der Schweiz» eine Reihe von Filmemachern neun Fragen.

I

  1. Warum haben Sie Dokumentarfilme gedreht? War für Sie Film gleichbedeutend mit Dokumentarfilm oder war der Dokumentarfilm die einzige Möglichkeit filmischer Äusserung?
  2. Wie ist Ihre Arbeitsweise - die Entwicklung von der Idee bis zum fertigen Produkt?
  3. Unter welchen Produktionsverhältnissen sind Ihre Filme entstanden (Finanzierung / Subventionen / Zusammenarbeit mit dem Fernsehen)?

II

  1. Haben Sie ältere oder neuere Vorbilder? Gibt es eine Dokumentarfilmschule, die Sie besonders schätzen?
  2. Haben Sie eine bestimmte dokumentarische Methode entwickelt? Können Sie diese Entwicklung beschreiben?
  3. Gibt es in Ihren Filmen thematische oder methodische Ähnlichkeiten mit den anderen schweizerischen Dokumentarfilmen?
  4. Wie, mit wem und wie intensiv analysieren Sie Ihre Arbeit?

III

  1. Welche Funktion hat ein Dokumentarfilm im allgemeinen und im besonderen in der Schweiz?
  2. Dokumentarfilme werden im Fernsehen oder in Randveranstaltungen gezeigt (Kellerkino, Sondervorstellungen in grossen Kinos, Clubs, Diskussionsveranstaltungen, etc.). Genügen Ihnen diese Abspielmöglichkeiten oder möchten Sie ins «normale» Kino? Oder sehen Sie für den Dokumentarfilm andere, wirkungsvollere Vertriebs- und Abspielmöglichkeiten?


Unter den Antwortenden war auch Roman Hollenstein, dessen Film «Freut euch des Lebens» in jenem Band S. 61 f. besprochen ist. R. H. war zu der Zeit an den Arbeiten zu «Je Ka Mi» (Arbeitstitel: «Und scheint die Sonne noch so schön...»), der ein Jahr später in Solothurn uraufgeführt wurde.

NB: Die nachfolgende Version basiert auf einem OCR-Scan und ist nur teilweise korrigiert; eine korrigierte Version liegt als PDF vor.


Roman Hollenstein

Ein Buch über den schweizerischen Dokumentarfilm ein Buch über dessen Autoren, in dem, für die nächsten paar Jahre, ein für allemal festgelegt wird, was Schweizer Dokumentarfilm ist und wer guten Schweizer Dokumentarfilm macht, wer geschichtliche «Marksteine» setzt?

Ein Buch, in dem dann auch jeder der ausgewählten Autoren sein eigener Marktschreier sein und jenen narzisstischen Zug ausleben darf, der ohnehin von den Konkurrenzverhältnissen gegen aussen wie gegeneinander so sehr genährt und gefördert wird – ein Ort also, um all jene tiefschürfenden Theorien über das eigene Werk und die einzig richtige Art des Filmemachens zu verbreiten: Selbstdarstellung einiger weniger für einige wenige Eingeweihte nach in unserem Kulturbetrieb längst bewährtem Muster?

Sein eigener Anwalt sein – das fällt insbesondere dann schwer, wenn man sich bemüht, auch bei der Arbeit hinter das Werk zu treten und einen Teil dessen, was gemeinhin als Autorenfilm bezeichnet wird, zu Grabe zu tragen. Sein eigener Anwalt sein ist etwas anderes, wenn es darum geht, das Medium Film gegen Einschränkungen und Anfeindungen von aussen zu verteidigen.

Ein Buch der Monologe und Autoren – und die anderen? Gibt es die nicht? Wäre es nicht nützlich, auch einmal etwas über die Erfahrungen der Mitarbeiter und Techniker mit den Autoren zu wissen, darüber, wie sie ihre Arbeit und das daraus resultierende Produkt erleben? Mag sein, dass dieses Problem mehr noch den Spielfilm betrifft, zumal dem Dokumentarfilmer aufgrund seiner finanziellen Situation mehr Funktionen zufallen und er oft einen ganzen Film fast allein durchzuschleppen hat. Trotzdem – vielleicht ergäbe sich immerhin eine Neurosengeschichte der Schweizer Autoren.

Diese Bemerkungen sollen das Verdienst der Herausgeber nicht schmälern, denen es sicher auch darum geht, dem gegenüber dem Spielfilm benachteiligten Schweizer Dokumentarfilm etwas den Rücken zu stärken und dem Ansehen gerecht zu werden, das dieser im Ausland bereits geniesst. Aber ich werde den Verdacht nicht ganz los, dass ein Buch in dieser Form einem falschen Bedürfnis nach geschichtlicher Fixierung, nach einer Ausstellung von Säulenheiligen entgegenkommt.

I a.

Die Frage «War für Sie Film gleichbedeutend mit Dokumentarfilm oder war der Dokumentarfilm die einzige Möglichkeit filmischer Äusserung?» enthält in ihrer Formulierung unausgesprochen eine andere Frage: Warum haben Sie noch keinen Spielfilm gedreht?

Hinter dieser Fragestellung mag der leicht pejorative und selten eingestandene, in der Praxis jedoch erfahrbare Beigeschmack stehen, der dem Dokumentarfilm nach wie vor anhaftet. Zwar sind in den letzten Jahren verdienstvolle Bemühungen unternommen worden, dem Dokumentarfilm aus seinem Aschenbrödeldasein herauszuhelfen. Viel genützt haben sie allerdings nicht. Das zeigt sich beispielsweise im Trend vieler Autoren zum Spielfilm. Dokumentarfilm gilt als Zwischenstufe, als Lehrzeit, in der man das Handwerk lernen und unter Beweis stellen kann. Dies in der irrigen Annahme, es sei leichter, Dokumentarfilme zu machen. Hat diese Tendenz vielleicht damit zu tun, dass das eine – nämlich der Spielfilm – als lukrativer und mit mehr Prestige verbunden gilt im althergebrachten Sinn von Hollywoods Traumfabrik? Wohl ist der Wunsch verständlich, in die Kinos und so mit seinem Anliegen zu einem grösseren Publikum zu kommen. Doch allein daran kann es nicht liegen, denn bezeichnenderweise nimmt bei diesem Schritt meist das vordem geäusserte kämpferische Engagement ab – zugegeben, unter dem nicht zu unterschätzenden Druck kommerzieller Aussichten. Oder war das Engagement lediglich Vorwand? Sehnt sich der Sinn nach einem längeren Vorspann mit einem grösseren «directed by...»? Ein Traum von Aufstieg und Herrschen – über Filmtechniker, über Schauspieler und Autos.

Hinzu kommt ein weiteres Element: Spielfilm als Erfindung und Fiktion kommt eher dem entgegen, was man als «Kunst» zu bezeichnen und zu bewundern geneigt ist. Der Spielfilmautor als der alte Prometheus...

Diese hier etwas forciert dargestellten (von der Presse gern mitgetragenen) Tendenzen tragen wenig dazu bei, den von den marktbeherrschenden Verleihen und Kinos aufrechterhaltenen Status quo «hier Spielfilm – dort Dokumentarfilm» abzubauen. Sicher hat es auch der Spielfilm hierzulande nicht leicht, aber er bedeutet doch zumindest kulturellen Aufstieg im besten Sinn der Tradition.

Für mich gibt es den Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilm nicht im Sinn von streng getrennten Kategorien: Der Dokumentarfilm als mehr oder weniger gestaltete Realität, der Spielfilm als mehr oder weniger reine Fiktion; hier reines Ablichten ohne künstliches Dekor und Schauspieler, da reine Inszenierung. Es gibt Spielfilme, die eher dem Dokumentarfilm zuzuordnen sind und umgekehrt. Je nach Verhältnis zur Realität und entsprechender Gestaltung können Filme nach der einen oder anderen Seite tendieren, aber auch Elemente von beiden enthalten. Filmemachen bedeutet für mich etwas anderes, als das eine oder andere zu tun. Mein erster Film war ein Kurzspielfilm. «Freut euch des Lebens» (eine Selbstdarstellung von drei Behinderten) beispielsweise tritt zwar als Dokumentarfilm auf, enthält jedoch in fliessenden Übergängen inszenierte Szenen, galt es doch, die Selbstdarstellung der drei Protagonisten nicht nur auf der Ebene von Interviews zu führen, sondern auch gespielte Szenen einzufügen, soweit dies die Aussagen verdeutlichte und auf natürliche Weise möglich war.

Mein neuer Film «Und scheint die Sonne noch so schön...» (provisorischer Titel: ein Film über Gesundheit und Fitness) ist ein Montagefilm, dessen Spektrum von reinen Reportagesequenzen bis zu ganz inszenierten Passagen reicht. Vielleicht stehe ich deshalb in der Nähe des auf dokumentarischer Basis aufbauenden Films, weil man sich damit der Realität mehr aussetzt, stärker gezwungen ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen‚als wenn man sich von vornherein ins Reich der Fiktion begibt.

I b.

Oft stellt man sich vor, dass ähnlich wie bei einem Zeugungsakt am Anfang eines Films eine isolierte Idee steht, vor dem Einschlafen oder bei einem Glas Wein gezeugt, aus der sich dann der Embryo gesetz- und planmässig bis zum fertigen Produkt entwickelt. Sicher gibt es diese Art Einfälle, bei der man sich etwa sagen mag: «Daraus lässt sich etwas machen, da liegt etwas drin. Eine gute Idee und zu alledem aktuell!» Das würde heissen: Man nehme ein Thema, finde eine attraktive Bildidee und achte nun darauf, dass diese den gerade herrschenden Tendenzen entspricht, füge auch etwas Pfeffer und Salz hinzu, damit das Ganze zusätzlich etwas vom Duft des in zwischen gesellschaftsfähig gewordenen kritischen Zeitgeistes enthalte etc.

Filmemachen verstehe ich als aktive gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Realität, die mich umgibt und in der ich lebe – und in der auch all jene leben, denen ich mit meinen Filmen begegnen möchte. Da gibt es Teile dieser Realität, die mich reizen und besonders beschäftigen, denen ich wie ein Detektiv auf die Spur kommen möchte, Vermutungen sind da, nicht fixe Vorstellungen und Theorien, die es mittels Film lautstark zu verkünden und zu erhärten gälte.

Film als Prozess des Suchens – ein Thema ist für mich nicht in seinem ganzen Inhalt und Umfang (auch seiner Aussage) schon von vornherein gegeben, sondern es entwickelt sich erst im Lauf der Zeit in ausgiebigen Recherchen, Gesprächen und Sammeln von Material in allen möglichen Richtungen: erst allmählich zeichnet es sich ab, rundet sich ab. Zuerst einmal geht es darum, Erfahrungen zu sammeln und die ganze Tragweite eines Themas kennenzulernen, bevor ein gültiges Konzept erarbeitet werden kann, das sich dann vor einer breiten Öffentlichkeit vertreten lässt. In einer so komplexen und verschleierten Realität wie der unsern ist diese Arbeit kaum von einem Einzelnen allein zu leisten, wenn ein Thema seriös und umfassend behandelt werden soll.

Bei «Freut euch des Lebens» beispielsweise wurden die Grundlagen und der ganze Problemkomplex mit einem durchgehend beteiligten Sachbearbeiter und weiteren Leuten aus verschiedenen Fachbereichen (Medizin/Soziologie/Psychiatrie/Sozialpsychologie) durchdiskutiert und ein erstes Grundkonzept erarbeitet. Daraufhin stellte sich konkret die Frage nach den Behinderten resp. Darstellern des Films.

Ein Darsteller allein durfte es nicht sein: die Gefahr war bei diesem Stoff zu gross, ein brillantes und rührendes Porträt eines Einzelschicksals zu geben, das durch seine Einmaligkeit vom eigentlichen sozialen Hintergrund eher abgelenkt hätte. Ebenso musste der Eindruck von Skurrilität vermieden werden, die in unverbindlich voyeurhafte Exotik hätte abgleiten können. Von drei Darstellern jedoch war mehr zu erwarten: verschiedene soziale Schichten, verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und Arbeitssituationen sollten in dauerndem Kontrast und Vergleich mehr an Aussage und Durchschaubarkeit der sozialen Verhältnisse ergeben. So wurde zunächst eine Idealbeschreibung der gesuchten Darsteller angefertigt. Sie gelangte an jene öffentlichen und privaten Institutionen, bei denen solche Patienten bekannt waren. Die meisten Institutionen schlossen ihre Türen, denn ein Film eines unabhängigen Filmers über Probleme, die sie als die ihren betrachteten, galt als unerlaubtes Eindringen. Zudem behagte ihnen der Gedanke nicht, dass Patienten in der Darstellung ihrer persönlichen Problematik andere als die offiziell gewünschten Schwerpunkte setzen könnten. Ein Amoklauf durch die Institutionen hatte begonnen.

Nach langer Suche fanden sich ungefähr vierzig Patienten, mit denen man sich in langen Diskussionen eingehend auseinandersetzte. Um einen Einblick in deren ganze Situation zu erhalten, wurden auch Akten und Informationen von Eltern, Verwandten, Bekannten und sofern überhaupt möglich Institutionen gesammelt. Schliesslich entschloss man sich in gegenseitigem Einverständnis für die drei den Film tragenden Behinderten. Es galt nun, noch eingehender mit ihnen bekannt zu werden und ihr Leben kennenzulernen, um ihre je verschiedene Situation in der ganzen Tragweite zu er fassen und sich mit ihnen zu befreunden. Über längere Zeit sah man sich regelmässig und diskutierte zusammen. Aufgrund dieser Erfahrungen und weiterer Recherchen wurde nun das Drehbuch speziell auf diese drei Personen zugeschnitten. Ihre Gegensätze und Gemeinsamkeiten wurden herausgearbeitet. Für die Dreharbeiten wurde dann das starre Schema des Drehbuchs wieder aufgegeben, um die Personen nicht einzuengen. Sie mussten sich frei äussern und entfalten können, mussten Raum haben für ihre Selbstdarstellung.

Mein neuer Film «Und scheint die Sonne noch so schön...» [Je ka mi] setzt sich in der Art eines Montagefilms aus vielen einzelnen Teilthemen, von denen jeder Teil fast einen eigenen Film ausmacht, zu einem Grundthema (Gesundheit und Fitness) zusammen. Die Recherchen zu diesem Film wurden auf verschiedene Mitarbeiter aufgeteilt und in regelmässigen Gruppensitzungen besprochen, an denen noch weitere Diskussionspartner beteiligt waren. Die Erarbeitung des umfangreichen Stoffes geschah so in kollektiver Art unter Beizug eines konstanten Mitarbeiters. Die Dreharbeiten erstreckten sich in verschiedenen Phasen über ein Jahr.

Es ist ein Film, der sich erst allmählich Stück für Stück zusammensetzt. Ergebnisse neuer Recherchen und Dreharbeiten wurden ständig berücksichtigt und hatten ihre Auswirkungen (Akzentverschiebungen) auf die anderen – teilweise erst geplanten – Teile des Films. Der Veränderungsprozess dauert so bis in die Montage hinein, kleinere Dreharbeiten sind bis zur Fertigstellung möglich. Diese Arbeitsweise die einen beträchtlichen Mehraufwand an Arbeit und finanziellen Mitteln erfordert – ermöglicht es, dem gewählten Thema gerecht zu werden und immer wieder neueste Erfahrungen einfliessen zu lassen. Es geht ja nicht nur darum, dass die Realität sich ständig verändert und sich zuweilen ganz anders darstellt, als man es vorher vermutete, sondern auch darum, dass man sich als Filmemacher selbst während der Zeit der Realisation verändert: dass man bei der Fertigstellung an einem anderen Punkt steht als zu Beginn. Die Montage bekommt so für mich einen neuen Stellenwert. Sie ist nicht dazu da, vorhandenes Material nach alten, einmal festgelegten Richtlinien zu verarbeiten, sondern neue, schöpferische Aspekte zu ermöglichen. Ein festes Drehbuch mit festem Montagekonzept würde ich als Vergewaltigung empfinden, vergleichbar mit einem Maler, der sein Bild in den passenden Rahmen hineinmalen müsste. Konzepte sind dazu da, dass sie wieder vergessen werden können. Diese Arbeitsweise ermöglicht zwar ein grosses Mass an Lebendigkeit, birgt aber die Gefahr in sich, dass das fertige Produkt nicht homogen und in sich geschlossen dasteht, was den gängigen und gern gesehenen Vorstellungen von Kunst widerspricht. Auch die Kritik schätzt das nicht besonders, erlaubt es ihr doch nicht, ein Produkt nach einmal gesetzten Massstäben zu bewerten.

Film als Prozess dauernder Veränderung, als Prozess des Suchens – in mühseliger Kleinarbeit die Realität unserer sich liberal gebenden und mit entsprechenden Glücksverheissungen aufwartenden Gesellschaft zu durchdringen versuchen. Es geht darum, jene kleinen Lügen, die Symptome verschleierter Repressionen sind, in kleinen Schritten aufzuarbeiten, um sie dem Zuschauer einsehbar machen zu können. Ein Film entwickelt sich so allmählich aus dem Kontext, in dem ich lebe, gemischt mit sinnlichen Bildreizen. Beides, Thema und sinnliche Bildreize, schaukeln sich allmählich gegenseitig hoch, bis der Film entstehen kann.

Ich bin davon überzeugt, dass die gesellschaftliche Realität und die Widersprüchlichkeit des noch bestehenden Autorenkults nur noch gemeinsame, kollektive Arbeit zulassen.

II a. + II b. + II c. + II d.

Es gehört wohl zu den Zielen eines jeden Filmemachers, eine eigene Methode und so einen eigenen Stil zu entwickeln, der seinen Intentionen entspricht und sich von anderen Formen abhebt. Eine eigene komplexe Methode selbst zu beschreiben jedoch kann fragwürdig und anmassend sein. Ich kann bloss den weg andeuten, den ich einzuschlagen versuche und das bisher Erreichte analysieren. Einige meiner Ziele sind in meinem neuen Film verwirklicht, der aber noch nicht vorliegt. So muss denn vieles Behauptung bleiben.

Beim Filmemachen geht es mir nicht – wie schon erwähnt – darum, Spielfilm oder Dokumentarfilm zu machen, sondern darum, eine Form zu finden, die es erlaubt, das Aussageziel eines Films möglichst effizient zu gestalten. Ein Film darf deshalb verschiedenste Elemente und Mittel enthalten, die ineinander übergehen. Am ehesten ist meine angestrebte Richtung mit jener von Alexander Kluge/Edgar Reitz und Dusan Makavejev zu vergleichen. Ich strebe eine Art von Montage-Film an, die zwar als dokumentarisch erscheint, jedoch andere Elemente wie reine Spielszenen nicht ausschliesst. Das Vorgehen ist zunächst dokumentarisch es geht darum, bestehende Realität zu hinterfragen. Dabei sollen Bilder entstehen, die in ihrer langen und eindringlichen Form den Charakter von Selbstaussagen haben, aber zugleich über sich selbst hinausweisen. Lange Einstellungen machen es dem Zuschauer möglich, sich selbst darin zurechtzufinden und erlebte Realität wiederzuerkennen. Die Gestaltung der Bilder zielt dahin, gleichzeitig spürbare Hintergrundinformationen wie beispielsweise das sozialpolitische Umfeld einer dargestellten Sache miteinfliessen zu lassen. Darüber hinaus scheue ich mich auch nicht, mit hinweisenden Symbolen in den Bildern zu arbeiten, die oft bewusst kaum wahrnehmbar sind, jedoch unbewusst spürbar bleiben. Dies war besonders bei «Freut euch des Lebens» der Fall. In meinem neuen Film haben die Schweizer Berge eine wichtige Rolle erhalten: Sie stehen da als Symbol des Höherkommens und Emporstrebens, des Rennens nach dem gesellschaftlichen Glück. Ein weiteres wichtiges Element der Bildgestaltung besteht darin, von herrschenden ideologiegeprägten Bildvorstellungen wegzukommen und Bilder zu schaffen, die eine gleiche Sache anders, relativiert, darstellen. Es geht darum, eine der Aussage entsprechende neue Bildästhetik anzuwenden und nicht neue Inhalte in alten Kleidern zu präsentieren – wobei dies beim Dokumentarfilm aus real gegebenen Umständen oft erschwert sein kann, wenn bestimmte Dinge ihre unveränderliche Eigengesetzlichkeit bewahren.

Es ist mir wichtig, von jener Art distanzierter Darstellung der Realität wegzukommen, die zwar dem Dargestellten seine Eigenwelt belässt und dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, die Bilder zu überprüfen die auf der andern Seite aber die Gefahr mit sich bringt, schöne und unverfängliche Bilder zu machen. Solche Bilder neigen gern dazu, in ihrer Schönheit nur mehr für sich selbst und für das ästhetisch-intellektuelle Vergnügen dazustehen. Ästhetik rückt allzu sehr in den Vordergrund und steht kaum mehr im Dienst der Sache. Angst vor Emotionen, vor Sinnlichkeit und Nähe spielt da mit. Ich denke, dass es wichtig ist, Bilder zu finden, die nicht nur den Kopf des Zuschauers, sondern in ihrer sinnlich nahen Art auch seinen Bauch berücksichtigen, die ihn als ganze Person ansprechen. Es geht dabei nicht um jenes Gefühlskino, das den Zuschauer überfällt und das Denken verhindert, sondern um eine Art, die Sinnlichkeit und Emotionen miteinfliessen lässt, um so den Zuschauer zu reizen und etwas in ihm auszulösen. Denkanstösse und Reflexion auf abstrakter Ebene – ohne Emotionen sind kaum möglich, sind reine theoretische Auseinandersetzung.

Hinzu kommt nun, dass die Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse und darin spielender Mechanismen dazu führt, das Mittel der Inszenierung anzuwenden, um bestimmte Aussagen deutlich formulieren zu können. In die gleiche Richtung zielt ein weiteres – und wohl das wichtigste – Element, das bereits bei «Freut euch des Lebens‘ angewendet wurde: Durch die den ganzen Film durchziehende Gegenüberstellung dreier verschiedener Geschichten konnte eine grössere Aussagekraft gewonnen und Eindimensionalität vermieden werden. Gemeinsamkeiten wie Kontraste wurden deutlicher, die drei Geschichten beleuchteten sich wechselseitig. Darüber hinaus konnten beispielsweise in einzelnen, geschlossenen Sequenzen zunächst harmlos erscheinende Aussagen ihren eigentlichen repressiven Charakter erst durch die direkte Gegenüberstellung mit anderen Aussagen enthüllen. Sprache funktioniert oft – besonders bei rhetorisch geschulten Interessenvertretern derart verschleiert und verschleiernd, dass der eigentliche Gehalt der Aussagen kaum mehr wahrgenommen werden kann.

Mein neuer Film geht nun methodisch einen entscheidenden Schritt weiter. Er besteht wie bereits erwähnt aus verschiedenen Einzelteilen, fast könnte man sagen, aus einzelnen Filmen. Teils stehen diese in sich geschlossen da, teils tauchen sie an späterer Stelle in einem anderen Licht wieder auf. Begonnenes wird so später wieder aufgenommen und in einem anderen Zusammenhang weitergeführt, so dass sich neue Aspekte der gleichen Sache zeigen. Querbezüge nach vorn und hinten entstehen. Es ist ein Montagefilm, der als dichtes Geflecht gestaltet wird, in dem sich verschiedene Linien und Ebenen fortlaufend durchkreuzen und ineinander verweben. Durch das Zusammenfügen scheinbar verschiedener Dinge können sich neue Aussagen ergeben. Der Ablauf ist so gestaltet, dass der Film jeweils zwei Schritte nach vorn, wieder einen zurück und wieder zwei nach vorn macht. Er arbeitet mit reinen Reportagesequenzen wie mit relativ abstrakten Szenen und ganz inszenierten Sequenzen. Da es bei diesem Film um das Hinterfragen von Theorien und Sachverhalten geht, die sich neutral geben, aber sehr konkreten Interessen dienen, ist es notwendig, dass einzelne, in sich mehr oder weniger unverfängliche Szenen ihre eigentliche Aussage, ihr Gesicht, durch allmählich sich öffnende Widersprüche zeigen. Das Grundmaterial des Films ist dokumentarisch, nicht aber dessen Verarbeitung. Eine besondere Rolle kommt dem Ton zu, der oft dialektisch zum vorhandenen Bild eingesetzt wird. Des weiteren wiederholen sich bestimmte Einstellungsformen durch den ganzen Film, die so einen eigenen Aussagewert gewinnen und Gemeinsamkeiten verschiedener Sachverhalte aufdecken.

Film scheint mir sehr viel mit der folgenden Szene zu tun zu haben: Wenn sich zwei Personen an einem Tisch gegenübersitzen und beide trinken Kaffee, so ist dabei noch nichts Besonderes. Kriege ich aber als Zuschauer plötzlich zu spüren, dass der Kaffee Gift enthält, so entfaltet sich plötzlich etwas.

Wenn auch «Freut euch des Lebens» thematisch jener Tendenz des jüngeren Schweizer Dokumentarfilms zuzuordnen ist, Aussenseitergruppen und Minderprivilegierten das Wort zu geben, so sind doch grundlegende Unterschiede da in der Art der Gestaltung wie in der Behandlung der Gefühlsebene. Der neue Film dürfte von den Gemeinsamkeiten inhaltlich wie formal gänzlich abweichen. Ich möchte wegkommen von einer gewissen puritanisch-soliden Art des Filmemachens, wie sie sich – ohne das grosse Verdienst des Schweizer Films einschränken zu wollen in den letzten Jahren eingebürgert hat: als Qualitätsmarke für gute Schweizer Arbeit. Oft schien es mir beim Betrachten dieser Filme so, als ob es weniger um den Inhalt als um die Art der Darstellung gehe. Der zu vermittelnde Inhalt trat in den Hintergrund, und es war fast so‚als ob er in den Dienst der persönlichen, sehr schönen Ästhetik und Ambition des Autors zu stehen käme. Diese Tendenz wird durch die Art unserer gängigen Kulturförderung unterstützt. So möchte ich in bewusst provokativer Art jenem fantasievoll sinnlich gestalteten Film das Wort reden, der Experimente erlaubt, aber auch risikoreicher ist. Mir kommen die Schweizer Filme manchmal allzu sehr wie gut gebaute, standfeste Einfamilienhäuschen mit Gartenzaun rundherum vor, die zwar, jedes für sich, gut dastehen (und auch Ausdruck der herrschenden Filmpolitik sind), in der Landschaft je doch wenig Alternativen erlauben. Schöne Häuschen – aber eben etwas zu brav und selbstherrlich.

III a. + I c.

Die spürbare Abwehr von kritischen Dokumentarfilmen – einhergehend mit einer weitherum zunehmenden Intoleranz nichtkonformem Denken gegenüber – zeigt an, wie notwendig diese nach wie vor in unserer sogenannt fortschrittlichen Gesellschaft sind. Es gehört zu den Aufgaben des Dokumentarfilms, bestehende gesellschaftliche Realität kritisch zu analysieren und dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, anhand der differenziert dargestellten Wirklichkeit seine eigene nicht ganz so glückselige Wirklichkeit wiederzuerkennen und in Frage zu stellen in der Hoffnung, einen kleinen Beitrag zu möglichen Veränderungen zu leisten. Ein Film allein schafft das nicht es können nur viele Filme sein.

Hinter der spürbaren Abwehr steht Angst. Sie zeigt sich nicht nur bei der Finanzierung (wo öffentliche-Stellen wie der Bund eine der wenigen relativ offenen Türen bedeuten, was wiederum von einer andern Öffentlichkeit als ‘Subversion‘ gewertet wird) und bei der Auswertung. Sie ist auch bei Dreharbeiten konkret spürbar und äussert sich in zwei Formen von Zwangssituationen, die beide dasselbe meinen: Einerseits kann das Entgegenkommen der Filmequipe gegenüber so extrem überfreundlich bis fast zur Peinlichkeit sein, dass diese sich fast als schlecht vorkommen muss, keinen direkten Werbefilm im Sinne des Gastgebers zu drehen. Wobei dann diese Freundlichkeit erlaubt, die Equipe durch diskrete Überwachung auf den richtigen Pfaden zu halten. Das kann bis zu Bestechungsversuchen gehen etwa, im Sinn von «Ihr werdet dann wohl das Richtige zeigen...». Andererseits jedoch werden an anderen Orten unverblümt zensurähnliche Massnahmen angemeldet, was immerhin sympathischer – weil offener ist. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, dass seit Bestehen der Fernsehsendung «Kassensturz» Interviews erheblich schwieriger geworden sind. Ein solches Klima verhindert offene, demokratische Auseinandersetzung. Hinter dieser Angst steckt der Wille, sich unter allen Umständen zu schützen, unabhängig davon, ob kritische Ansätze gerechtfertigt sind oder nicht. Kommt es wohl in der vielgerühmten Demokratie hierzulande an den Punkt, wo offene und seriös erarbeitete kritische Dokumentarfilme kaum mehr möglich sind? Es gibt offenbar Grenzen, an denen das sprichwörtliche Demokratieverständnis plötzlich endet. Die Tendenzen sind unübersehbar. Mehr noch zeigen das Erfahrungen meiner Kollegen. Wird der Dokumentarfilm wohl deshalb mehr gefürchtet als der Spielfilm, weil dessen Inhalt, und sei er noch so kritisch, in mehr oder weniger starkem Mass als «Fiktion» – somit erfunden relativiert und abgewehrt werden kann?

Dokumentarfilme sind notwendiger denn je – besonders auch in einer Zeit, in der die Fernsehprogramme dazu neigen, unter dem Deckmantel der ‘Ausgewogenheit» dem Zuschauer wichtige Informationen vorzuenthalten und ihn so zu bevormunden, seine Urteilsfähigkeit von vornherein in Abrede zu stellen. Diese Tendenz rückt in gefährliche Nähe von sehr un-liberaler Manipulation. Weiter werden dem Zuschauer nach dem harten Alltag keine Sendungen mehr zugemutet, die zum Denken anregen könnten. In einer Situation, wo der Dokumentarfilm an den Rand gedrängt ist (in die Kinos kommt er höchstens in Sonderveranstaltungen), sehe ich im Augenblick nur die Möglichkeit von nichtkommerziellen Kommunalkinos, wie sie in der Bundesrepublik bereits seit einiger Zeit funktionieren, oder aber durch Vertrieb über Alternativorganisationen, die mit den Filmen in besonderen Veranstaltungen an das Publikum gelangen.

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